Fachbereiche: Geschichte (Politik, Sowi, Philosophie) - Sprachen - Biologie (Biochemie) - IT (Technik, Physik) - Wirtschaft - Recht und Blödsinn.
Dieser Universal-Blog ist aus einer Seite für Geschichte, Politik und Realienkunde hervorgegangen und wurde in Richtung Humanwissenschaften weiterentwickelt.
Sprachen: Englisch, Französisch, Spanisch; Latein, (Alt-)Griechisch; Russisch; Chinesisch, Japanisch; Arabisch; Mittelägyptisch; Hindi (Sanskrit) etc.
Personen-Link: http://novatlan.blogspot.de/2014/08/personen-pool.html

Montag, 19. Oktober 2015

KRIEGSTHEORIEN

19.10.2015; 23.08.2025

War (Quelle: www.pixabay.com; ThePixelman)


Der Themenbereich "Kriegstheorien" ist ein äußerst interessantes und relavantes Forschungsfeld. Trotzdem mangelt es hier an Überblicksdarstellungen.
Ausnahmen bestätigen die Regel: In den 90er-Jahren erschien von Seyom Brown das Werk "The Causes and Prevention of War", das immer noch zu empfehlen ist.
Und (erst) 2011 erschien von Thomas Jäger und Rasmus Beckmann das "Handbuch Kriegstheorien".

Wir werden uns hier im Kern (aber nicht nur) auf "The Causes and Prevention of war stützen.
Schwierig bei der Einteilung ist die Frage, ob man von Denkschulen ausgehen soll - was wir hier primär getan haben - oder von individuellen im Gegensatz zu kollektivistischen Ansätzen.

Möchte man diesen "Mehrebenenansatz" der vielen Denkschulen einmal flapsig veranschaulichen, dann könnte man fragen:
Was hat den US-Präsidenten Richard Nixon zu seiner scharfen Außenpolitik veranlasst?


  • Seine dominante und bigotte Mutter?
  • Sein frustrierter und gewalttätiger Vater?
  • Sein Testosteron? 
  • Die Tatsache, dass sein älterer Bruder an einer Krankheit starb und er dann Jura studieren musste/sollte?
  • Seine Organminderwertigkeit beim Football, die er kompensieren wollte? 
  • Seine Republikanische Partei?
  • Die Wirtschaftslobby bzw. verschiedene Wirtschaftslobbys (Energie, Rüstung etc.)?
  • Der Kalte Krieg mit seinem Systemstreit mit der Sowjetunion? 



1. Biologische Theorien ("biologisch-materialistisch"):

  • der Mensch hat entweder einen biologisch begründbaren triebhaften Zwang zu Aggression und Krieg oder zumindest das Potenzial dazu
  • akademische Grundlagen sind die Humanethologie (E. = Verhaltenslehre), die Genetik (Vererbungslehre), die Soziobiologie und andere
    Vertreter: Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Edward O. Wilson, Desmond Morris
  • aus biologischer Sicht ist ein Aggressionsverhalten nicht unbedingt nur negativ zu sehen; es hat in der natürlichen Umgebung eine Funktion, also einen Zweck (z. B. Kampf um Territorium, Verteidigung, Nahrungsbeschaffung, Kampf um Weibchen)
  • Kritiker werfen einigen Vertretern biologischer Kriegstheorien Darwinismus und Rechtslastigkeit vor 


2. Ökonomische Theorien ("ökonomisch-materialistisch"):

  • Krieg ist ein wichtiges Mittel, um sich ökonomische Ressourcen zu beschaffen 
  • diese Theorien können verschiedener Provenienz sein, z. B. aus dem politischen Realismus stammend, liberalistisch, marxistisch, strukturalistisch, funktionalistisch etc. 
  • viele bringen die ökonomi(sti)schen Ansätze aber mit marxistischer Theoriebildung in Verbindung 
  • aus marxistischer Sicht ist Krieg im Kapitalismus sogar notwendig, damit sich das System erhalten und weiter expandieren kann 
  • die marxistischen Theorien sind unterteilt in (klassische) marxistische Theorien, neomarxistische Theorien und von letzteren abgeleitet Systemtheorien und Dependenztheorien 
  • Vertreter: viele klassisch-marxistische Imperialismustheoretiker wie Lenin, Luxemburg, Hilferding; Ekkehard Krippendorf, Hartmut Elsenhans, Immanuel Wallerstein (Weltsystemtheorie), André G. Frank (Dependenztheorie, Weltsystemtheorie)  

3. Psychologische Theorien und tiefenpsychologische Theorien:

a) psychologisch:
  • psychologische Theorien gehen davon aus, dass Kriege ihre alleinigen oder hauptsächlichen Ursachen in den Individuen selbst haben
  • für Einsteiger in die Materie ist es aber schwierig, bei den vielen psychologischen Theorieansätzen wie Behaviorismus, Gestalttherapie, Tiefenpsychologie, Humanistische Psychologie usw. den Überblick zu behalten 
  • die Individuen können z. B. als Kind Aggressionen ausgesetzt worden sein, im Berufsleben gescheitert sein o. ä., was dann zu einer schweren seelischen Kränkung geführt hat   
  • die Kränkung ist oft verbunden mit (subjektiv erlebter oder objektiver) Isolation
  • das gilt sowohl für jeden einzelnen Kriegsbefürworter wie auch und insbesondere für die Anführer, die andere zum Krieg anstacheln
  • seelische Prägungen wirken in der Kindheit besonders stark, können aber auch später erfolgen  
  • das Individuum versucht dann, persönliche Erniedrigungen zu kompensieren oder überzukompensieren 
  • dabei kann es zu Überlagerungen von Motivlagen kommen, z. B. wenn sich Hitler für persönliche Kränkungen in der Kindheit UND im (Ersten) Weltkrieg rächen will 
  • viele historische Anführer stehen unter Verdacht, eine entsprechende Persönlichkeitsformung bzw. -deformation erlitten zu haben:
    Richelieu, Talleyrand (frühe und mittlere Neuzeit); Hitler, Mussolini, Stalin, Mao; George W. Bush, Donald Trump; Tony Blair; Wladimir Putin; Helmut Schmidt, Helmut Kohl 
b) tiefenpsychologisch:
  • die Schulen der Tiefenpsychologie haben ihren Anfang ungefähr um 1900, haben aber philosophische Ideen aus früheren Zeiten aufgenommen;
    Bsp.: Philosophen der griechischen Antike oder des 19. Jhd. wie Nietzsche ("Wille zur Macht") oder Schopenhauer ("Die Welt als Wille und Vorstellung")
  • als Begründer der Tiefenpsychologie gilt Siegmund Freud;
    es kam aber aus seiner Schule heraus zu Weiterentwicklungen oder sogar Abspaltungen
  • berühmte Freud-Schüler, die ihren eigenen Weg gingen sind:
    C. G. Jung: Analytische Psychologie; Archetypenlehre, Animus-Anima, kollektives Unbewusstes
    Alfred Adler: Individualpsychologie; Lehre von der Organminderwertigkeit
  • tiefenpsychologische Theorien gehen von besonders tief sitzenden seelischen Faktoren und Motivatoren aus, die sehr oft unbewusst wirken 
  • besonders bekannt ist die psychoanalytische Schule von Sigmund Freud:
    Freud entwarf eine Personlichkeitstheorie des Ich - Über-Ich - Es
    (Über-Ich: kontrollierende Instanz, heute im Frontallappen verortet,
    Es: triebhafte, "von außen" auf das Ich wirkende Instanz, heute im Stammhirn verortet)
    hinzu entwarf er Theorien zur Persönlichkeitsentwicklung in bestimmten Phasen, die aber heute sehr umstritten sind, und behauptete die Existenz eines Lebens- und eines Todestriebes (Eros und Thanatos)
  • Schüler wie Erich Fromm oder Wilhelm Reich, die im weiteren Sinne auch der Frankfurter Schule zugerechnet werden, entwickelten später eine Synthese aus Tiefenpsychologie und Marxismus, den sogenannten Freudomarxismus;
    Erich Fromm konzentrierte sich dabei auf die "analytische Sozialpsychologie" 



4. Sozialpsychologische Theorien:

  • sozialpsychologische Theorien kombinieren ("mischen") psychologische und soziologische Theorien
  • danach sind handelnde Individuen wichtig, diese werden aber durch Gruppen stabilisiert und interagieren mit diesen (gegenseitige Beeinflussung)
  • die (politische) Sozialpsychologie hat ihrerseits die Politische Psychologie beeinflusst:
    der Begriff stammt zwar schon von Adolf Bastian aus dem Jahre 1860, wurde aber erst durch Klaus Horn und Peter Brückner als Forschungsmaxime intensiviert 



5. Soziologische Theorien:

  • soziologische Theorien gehen davon aus, dass Kriege von gesellschaftlichen Gruppen ausgehen
  • diese Gruppen können staatliche Eliten sein, wirtschaftliche Eliten, bestimmte Lobbygruppen und Think Tanks oder eben Klassen (im Grenzbereich zu ökonomischen Theorien)
  • in der Systemtheorie geht man davon aus, dass die Gesellschaft in Analogie zur Biologie von Systemen bestimmt wird, die nach bestimmten Mustern funktionieren (z. B. AGIL-Schema) und nach Autopoiesis (Selbsterhaltung) streben;
    auch solche Gruppen können kriegstreibend wirken!;
    Bsp.: Militärbürokratien, die nach Aufgaben suchen und um ihren Selbsterhalt kämpfen;
    die Systemtheorie basiert u. a. auf Forschungen von Niklas Luhmann, der seinerseits in den USA durch Talcott Parsons' Struktur-Funktionalismus beeinflusst wurde



6. Etatistische Theorien:

  • etatistische Theorien gehen davon aus, dass Kriege v. a. oder ausschließlich von Staaten ausgelöst und zwischen Staaten geführt werden (manchmal auch von Staatenbündnissen)
  • man kann diese Theoriegruppe auch als Unterordnung der soziologischen Theorien sehen, sie hat aber eine gewisse Eigenständigkeit (und ein "Eigenleben");
    genauso haben soziologische und ökonomische Kriegstheorien Überschneidungen,
    z. B. im marxistischen Theoriekreis
  • Empirie: Kriege werden in der Tat häufig von Staaten ausgelöst, aber nicht immer
  • etatistische Theorien sind oft nahe an der Realistischen Schule oder der Neorealistischen Schule der Internationalen Beziehungen (Internationalen Politik), die sich auf (machtpolitische) Philosophen und Staatsmänner wie Thukydides, Macchiavelli, Hobbes, de Bonald oder Metternich beruft);
    ein wichtiger Vertreter des (klassischen) Realismus ist Hans Morgenthau, einer des Neorealismus ist Kenneth Waltz
  • in der Realistischen Schule geht man davon aus, dass Staaten die Hauptakteure der IB sind und inter- oder supranationale Organisationen nicht wirklich Staaten vereinen, sondern autonom handelnden Staaten eine Arena bieten, in denen diese ihre Interessen wahrnehmen können und dies auch wollen
  • einen kritischen Ansatz zum machtpolitischen Verhalten von Staaten findet man bei Ekkehard Krippendorff, der ebenso zur marxistisch-materialistischen Debatte Beiträge geleistet hat;
    der politikanalytisch wie literaturanalytisch interessierte Krippendorff hat versucht, politische Erkenntnisse auch bei berühmten Schriftstellern wie Goethe oder Shakespeare zu gewinnen (!) 


7. Ideologische und Religiöse Theorien:

  • heute wird nur noch selten die Theorie vertreten, ein Krieg würde nur oder fast nur wegen einer Ideologie (Weltanschauung) geführt
  • häufig behauptet man, eine Ideologie, sei sie weltlich oder religiös sei eher ein Vorwand für einen Krieg oder er diene der Stärkung des Zusammenhaltes, quasi als "gesellschaftlicher Kitt"
  • man sollte jedoch den Einfluss von Ideologien nicht ganz herunterspielen:
    es gibt immer noch Menschen, für die ideologische Motive entweder fast allein handlungstreibend oder wenigstens mit ausschlaggebend sind
  • es gibt immer noch Ideologien, die eine "Wir haben recht und müssen die Welt bekehren"-Einstellung haben 
  • man denke an radikalreligiöse Strömungen innerhalb fast allen Weltreligionen wie Christentum, Judentum (z. B. Kahanismus), Islam (die Ideen von Ayatollah Chomeini), Hinduismus oder auch Buddhismus, der nicht in allen Ausprägungen friedlich ist
  • der Psychologe Julian Jaynes, der zeitlebens an der Schnittstelle zwischen Psychologie, Geschichte und Sprachwissenschaft geforscht hat, hat darüber hinaus die Grundthese einer Bikameralen Psyche aufgestellt: danach gab es früher eine Zwei-Kammern-Psyche (bikameral) mit einer göttlichen und einer menschlichen Kammer, wobei die göttliche der menschlichen Befehle gegeben hat, wie wir es z. B. aus der Bibel, aus ägyptischen oder mesopotamischen Epen oder von Homer kennen;
    erst durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche am Ende der Bronzezeit (zwischen ungefähr 1300 und 700 v. Chr.) sei erst das moderne Ich-Bewusstsein entstanden; bei einigen psychischen Krankheiten aber auch bei radikalreligiösen Attentätern bestehe die bikamerale Psyche aber weiter oder kann sich neu bilden

 

QUELLEN UND LITERATUR:

Brown, Seyom: The causes and prevention of war; 1994 (St Martin's Press)

Elsenhans, Hartmut: Capitalism, Dependency and Ultra-Imperialism: Political Economy of the Capitalist International System; 2025 (Routledge)

Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg; 1993 (Suhrkamp)

Frank, Andre G.: ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter; Wien 2016 (Promedia)

Holsti, Kalevi: The State, War and the State of War; 1996 (Cambridge University Press)

Krippendorff, Ekkehard: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft; 1995 (Suhrkamp)

Krippendorff, Ekkehard: Wie die Großen mit den Menschen spielen; 1988 (Suhrkamp)

Wallerstein, Immanuel M.: Das moderne Weltsystem; in den 1970ern begonnene Reihe (verlegt z. B. bei Promedia) 



Armageddon (Quelle: pixabay.com; Pete Linforth)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen