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Samstag, 28. Juni 2025

ALTE KIRCHE

28.06.2025 (ca.)

Taufdarstellung (Calixtus-Katakombe in Rom)
Taufdarstellung (Calixtus-Katakombe in Rom)


Der Ausdruck "Alte Kirche" wird meist synonym gebraucht zu den Ausdrücken "Frühe Kirche" oder "Frühchristentum". Manche verstehen unter Frühchristentum aber auch nur die vorkonstantinische Zeit.
Mit Alter Kirche meint man die Kirche(ngeschichte) der ersten Jahrhunderte bis ungefähr 500 n. Chr.
Diese Epochenabgrenzung wirkt sich auch auf die Einteilung der Lehrstühle für Alte Kirchengeschichte, Mittlere Kirchengeschichte und Neuere Kirchengeschichte aus.

Diese Einteilung birgt auch Probleme:

  • die frühen Christen waren noch eine heterogene Bewegung, die kaum als "Kirche" geeint war (ekklesia/ἐκκλησία meinte ursprünglich eine Versammlung oder Gemeinde, wörtlich "das Zusammengerufene")
  • erst in der Mitte des 2. Jhd.s etablierten sich langsam christliche Organisationsformen
  • die Zäsur um ca. 500 n. Chr. kann man vertreten, allerdings bilden schon die Regierungszeiten von Kaiser Konstantin I. (der Große) und Kaiser Theodosius I. im 4. Jhd. n. Chr. deutliche (positive) Einschnitte für die Entwicklung des Christentums
  • Kaiser Konstantin I. (Flavius Valerius Constantinus; 270/288 - 337) stieg machtpolitisch auf, als sich die von Kaiser Diokletian errichtete Tetrarchie (Viererherrschaft) auflöste; er verhalf zwar mit der "konstantinischen Wende" letztendlich dem Christentum zum Durchbruch im Römischen Reich, doch ging dabei er schrittweise vor; 313 garantierte Konstantin zusammen mit Licinius (Kaiser des Ostens) mit dem "Mailänder Edikt/Toleranzedikt/Vereinbarung" die Religionsfreiheit im Reich; danach privilegierte er das eben noch verfolgte Christentum sogar und sorgte 325 im Ersten Konzil von Nicäa für eine teilweise Beilegung innerchristlicher Streitigkeiten; Konstantin förderte aber erst lange den Sol-Invictus-Kult, bevor er dem Christentum den Vorzug gab; Konstantins recht späte Hinwendung zum Christentum hatte sicher nicht nur ideelle, sondern auch strategisch-taktische Motive (z. B. den Sieg in der Schlacht an der Milvischen Brücke 312)
  • Theodosius I. (Flavius Theodosius; 347 - 395) machte das Christentum schließlich 391 de facto zur Staatsreligion des Römischen Reiches; der Trinitarier ging mit Gesetzen sowohl gegen Heiden als auch gegen christliche Abweichler (Häretiker) vor; unter seinen Söhnen wurde das Imperium Romanum faktisch in ein Weströmisches und in ein Oströmisches Reich eingeteilt, obwohl man ideell an der Einheit des Reiches festhielt


ZEITLICHE EINGRENZUNG

Für die zeitliche Eingrenzung des Zeitraums der "Alten Kirche" existieren unterschiedliche Ansätze:
Häufig versteht man darunter die Epoche vor der Abspaltung der altorientalischen Kirchen (orientalisch-orthodoxen Kirchen), also jenen "Ostkirchen", die sich nach dem Konzil von Ephesos (431) oder nach dem Konzil von Chalcedon (451) von der römischen Reichskirche getrennt haben.
Diese "Altorientalen" waren entweder Landeskirchen außerhalb der Grenzen des (Ost-)Römischen Reiches oder Regionalkirchen (-bewegungen) innerhalb des Reiches, die in Armenien, Ägypten, Georgien oder Syrien gegen den konstantinopolitanischen Zentralismus gerichtet waren. Ethnisch mag es sich dabei um Griechen, Kopten oder Assyrer/Aramäer gehandelt haben. 
Heute spricht man auch von "Oppositionskirchen". Ihre Abspaltung (Trennung) hatte neben dogmatischen auch politische und soziale Gründe. Die Altorientalen waren aber nicht durch eine einheitliche "altorientale Ideologie" verbunden.
Die theologischen Entwicklungen, ökumenischen Konzile, Heiligen und Kirchenväter dieser Zeit werden meistens von allen großen Konfessionen anerkannt.

Generell zur Epoche der Alten Kirche zählen:

  • das Urchristentum
  • die apostolischen Väter
  • die Apologeten
  • die frühchristlichen Märtyrer
  • die Kirchenväter
  • die spätantike Reichskirche (nach der konstantinischen Wende)
  • die ersten vier ökumenischen Konzile bis zum Konzil von Chalcedon 451 

Oben haben wir geschrieben, dass das Ende der Alten Kirche ungefähr um 500 n. Chr. war.
Einige sehen ihre Existenz mit dem Untergang des Weströmischen Reiches enden, andere erst mit Gregor dem Großen (540 - 604), dem letzten Kirchenvater des Westens, der auch in der Ostkirche anerkannt wird.


BEGRIFFLICHE EINGRENZUNG

In der Kirchengeschichte der (Zeit der) Alten Kirche gibt es manigfaltige Bezeichnungen, die sich teilweise überschneiden:

  • Jerusalemer Urgemeinde: Die J. U. war die erste christliche Gemeinde, die sich gemäß des NT nach Pfingsten in Jerusalem versammelt hat, zeitlich wohl zwischen 30 und 70 n. Chr.
  • Urchristentum: Das U. bezeichnet in der Christentumsgeschichte die Entstehungszeit des Christentums nach dem Tod Jesu von Nazaret, der um 30 n. Chr. eingetreten sein soll
    (einige Historiker bestreiten generell die Existenz eines historischen Jesus bzw. Jeshua);
    war sein Ende mit der Verschriftung der synoptischen Evangelien (um 90 n. Chr.) oder erst mit dem Auftreten der Apologeten in der Mitte des 2. Jhd.s n. Chr.?
  • Zeit der apostolischen Väter: Die Zeit d. a. V. bezeichnet die Zeit der Kirchenväter, die möglicherweise Beziehungen zu Aposteln hatten oder stark von ihnen beeinflusst wurden;
    man spricht auch von den "Kirchenvätern der zweiten und dritten Generation" im späten 1. Jhd. und in der ersten Hälfte des 2. Jhd.s
  • Frühchristentum (frühes Christentum): die gesamte Epoche der Alten Kirche oder nur die vorkonstantinische Zeit (v. a. die Anerkennung des Christentums als "Religio licita" im Mailänder (Toleranz-)Edikt/Vereinbarung von 313); manchmal wird der Begriff sogar synonym zum Urchristentum und seiner Zeit verwendet
  • Christenverfolgungen: Die Zeit der vorerst sporadischen, dann etwa ab 100 auch systematischen (zunächst lokalen und dann reichsweiten) Christenverfolgungen im Römischen Reich begann mit der Neronischen Verfolgung und endete mit dem Mailänder (Toleranz-)Edikt/Vereinbarung von 313, endgültig mit der Anerkennung der christlichen Kirche als einziger Staatsreligion im Jahre 391
  • Römische Reichskirche: Wesentliche Schritte zur Reichskirche waren das Dreikaiseredikt von 380, das den römisch-alexandrinischen trinitarischen Glauben zur offiziellen Religion des Römischen Reiches erklärte, um innerchristlichen Streitigkeiten zu begegnen, und das Edikt von 391, mit dem Kaiser Theodosius I. die heidnischen Kulte verbot
  • einige moderne Forscher sehen jedoch erst mit/unter Kaiser Justinian I. im 6. Jhd. n. Chr. die machtpolitische Durchsetzung des Christentums gegen das Heidentum;
    denn noch lange nach 391 n. Chr. gab es heimlich ausgeübte heidnische Kulthandlungen, die dann unter Justinian I. strikt(er) unterbunden wurden;
    die römische Reichskirche hatte gegenüber dem Staat aber nie die Macht, die die römisch-katholische Kirche im Mittelalter hatte - im Osten entstand ein prekäres Gleichgewicht mit der kaiserlichen Macht
  • Zeit der ökumenischen Konzilien: Die Zeit d. ö. K. ist die Zeit der sieben ökumenischen Konzile vom ersten Konzil von Nicäa von 325 bis zum zweiten Konzil von Nicäa von 787.
  • Patristik: P. ist die Wissenschaft, die sich mit der Zeit der Kirchenväter vom 2. bis ins 7./8. Jhd. befasst
  • Pentarchie: Die Pentarchie ist die Zeit der fünf ökumenischen Patriarchate;
    diese existierten de facto seit dem ersten Konzil von Konstantinopel 381 und wurden 451 n. Chr. endgültig am Konzil von Chalcedon definiert;
    die Pentarchie umfasste die Patriarchate des Abendlandes, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem;
    die Pentarchie endete mit dem Morgenländischen Schisma (Großes Schisma, Schisma Graecorum) etwa um die Jahrtausendwende, also zwischen der Westkirche und der östlichen Orthodoxie


ORGANISATORISCHE UND THEOLOGISCHE ENTWICKLUNGEN

In die Zeit der alten Kirche fällt die Entwicklung vom Urchristentum zur Bischofskirche und dann zu den fünf Patriarchaten, also Alexandrien, Antiochien, Jerusalem, Konstantinopel und des Abendlandes.
Bis zum Anfang des 4. Jhd.s tauschten sich die Bischöfe v. a. brieflich aus. Nach der konstantinischen Wende entstand ein "reger Synodalbetrieb", zumal die Bischöfe der legalisierten Kirche jetzt den "Cursus publicus" (kaiserliche Post) nutzen konnten.

In die Zeit der Alten Kirche fangen auch die Anfänge des Mönchstums, die Entstehung der ersten Klöster in Ägypten, der Ordensregeln der heiligen Basilius und Benedikt.

In der Zeit der Alten Kirche entstanden auch der Kanon des Neuen Testaments und die allgemein anerkannten Glaubensbekenntnisse. Theologisch und philosophisch entspricht die Zeit der Patristik, also der Zeit der Kirchenväter.

Es gab bereits in der Phase der Alten Kirche erhebliche innerchristliche Konflikte, die manchmal auch blutig ausgetragen wurden:

  • Auseinandersetzungen mit der Gnosis
  • Auseinandersetzungen mit dem Marcionismus
  • A. mit dem "Hellenismus" (Apologeten)
  • der arianische Streit und der nestorianische Streit bzgl. der Christologie
  • der Donatistenstreit bzgl. der Ekklesiologie 
Constantina-Mausoleum
Constantina-Mausoleum (Rom, um 337 n. Chr.)





QUELLEN:
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Dienstag, 24. Juni 2025

MARC DUTROUX

24.06.2025 (ca.)  - 04.08.2025

Marc Dutroux (Bleistiftzeichnung)


* 06.11.1956 in Ixelles/Elsene in der Region Brüssel-Hauptstadt

Marc Dutroux ist ein belgischer Schwerkrimineller, Mörder und Sexualstraftäter.

-

Marc Dutroux entführte und missbrauchte bis Mitte der 1990er-Jahre Kinder und Jugendliche.
Es gibt erstens Indizien, dass er dies schon in den 1980ern getan hat, und zweitens, dass er dies nicht nur für sich, sondern auch für kriminelle Netzwerke getan hat.
Mindestens zwei entführte Kinder verhungerten in seiner Gefangenschaft.
Dutroux war auch in weitere kriminelle Machenschaften wie Diebstahl, Hehlerei und Erpressung verwickelt. Bis heute ist nicht ganz klar, in welchem Umfang.
Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und Abhängigkeiten (Erpressungsgefahr!) im kriminellen Untergrund soll Dutroux auch Komplizen getötet haben.
Die Taten von Dutroux wurden in ihrer Schwere erst spät entdeckt und sind bis heute nicht vollumfänglich bekannt. Während der Ermittlungen gegen Dutroux kam es offensichtlich zur Vernichtung von Beweismaterial und zur Einschüchterung und Ermordnung von Ermittlungsbeamten, Zeugen und Komplizen.
Dies führte zu einer großen öffentlichen Empörung. Im Oktober 1996 demonstrierten 300.000 Menschen in Brüssel beim "Weißen Marsch".
Schließlich wurde Marc Dutroux zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

Dutroux konnte sich bei seinen Taten auf viele Komplizen verlassen. Das komplette Netzwerk der Täter ist bis heute nicht aufgeklärt. Bei Streitigkeiten wurden mehrere Komplizen beseitigt.

Dutroux konnte lange auf die Komplizenschaft seiner (Ex-)Frau, Michelle Martin (15.01.1960) bauen. Sie wurde schließlich zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits 2012 nach 16 Jahren Haft entlassen. Martin stellte sich vor Gericht als Opfer des manipulativen Dutroux hin.

Michel Lelièvre (11.05.1971), ebenfalls ein Komplize Dutroux', wurde zu 23 Jahren Zuchthaus verurteilt und 2019 auf Bewährung entlassen. Der drogenabhängige "Außenseiter" hat vor Gericht alle Taten zugegeben.

Bernard Weinstein
, ein weiterer Komplize Dutroux' und womöglich "Vorgänger" Lelièvres, wurde 1995 von Dutroux vergiftet (betäubt) und lebendig im Garten begraben.
Er soll Dutroux bei seinen Taten betrogen haben und war ein Risiko aufgrund seiner Mitwisserschaft.

Jean van Peteghem, noch ein Komplize Dutroux', fuhr bereits 1991 mit seinem Moped in einen Bus. Dieser Unfall ist verdächtig, zumal van Peteghem verfolgt worden sein soll.
Er wollte sich vorher von Dutroux und dessen anderen Komplizen distanzieren und barg die Gefahr, als Mitwisser vieler Taten mit der Polizei zu reden.


Eine weitere verdächtige Beziehung Dutroux' war die zu Michel Nihoul (auch Jean-Michel Nihoul genannt; 23.04.1941 - 22.10.2019). Der Anwalt und Geschäftsmann Nihoul galt es möglicher Kontakt Dutroux' in "höhere Kreise". Nihoul war auch Partyveranstalter, Rotlichtunternehmer und in diverse dubiose Geschäfte verwickelt.


später angeklagte Akteure

Die skandalösen Ermittlungen im Fall Dutroux führten nicht nur zu öffentlichen Protesten, sondern auch zu investigativen Artikeln, Büchern und Dokumentationsfilmen.
Ein berühmtes Beispiel: "Die Spur der Kinderschänder - Dutroux und die toten Zeugen" von 2001 von Piet Eekman.
In dieser ZDF-Reportage geht man auf den Fall Dutroux, die Ermittlungen und auf 27 mysteriöse Todesfälle in seinem Umfeld ein.  


JUGEND

Marc Dutroux wurde 1956 bei Brüssel geboren und wuchs die ersten vier Lebensjahre in der Noch-Kolonie Belgisch-Kongo auf (bis 1960). Seine Eltern waren beide Lehrer, so dass ihm der Zugang zu Bildung anfangs offen gestanden hat. Dutroux hatte drei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester.
Die Ehe von Dutroux' Eltern war aber zerrüttet. Dutroux' Vater Victor galt als cholerisch und auch physisch gewalttätig. Marc bekam als ältester Sohn viel von dessen Frust ab.
Auch seine Mutter soll wenig Empathie gezeigt haben.

Dutroux entwickelte so einen Hass auf die Gesellschaft, was die Gefahr birgt, dass so ein Mensch zum Opfer und Täter in einer Person wird. Es fehlte eine entgegensteuernde Kraft, die das hätte verhindern können.

Marc Dutroux war schon als Neunjähriger in Schlägereien verwickelt. Später stahl er Mofas und handelte mit pornographischen Bildern.

1971 wurde Dutroux' Vater wegen Depressionen für mehrere Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Im selben Jahr ließ er sich von seiner Frau scheiden.
Einige Biographen meinen, dass dann Marc Dutroux in die Rolle des Patriarchen nachgerückt ist.
Im Alter von 16 verließ Dutroux sein Zuhause und schlug sich mit Diebstahl und als Stricher durch.
Dutroux galt als "König der Eisbahn" und lernte viele seiner Liebschaften beim Schlittschuhlaufen kennen.


FAMILIENGRÜNDUNG UND KRIMINELLER LEBENSSTIL

Im Alter von 18 oder 20 Jahren heiratete Dutroux Mitte der 1970er (1976?) zum ersten Mal. Seine Frau brachte ein Kind mit in die Ehe. Beide bekamen noch ein weiteres Kind, gaben dann aber beide Kinder in ein Heim.
Nach wiederholten Gewaltausbrüchen auf Seiten von Dutroux wurde die Ehe 1983 geschieden.

Dutroux hatte aber bereits eine Affäre mit der Lehrerin Michelle Martin, die bereits drei eigene Kinder hatte. 

In Dutroux verfestigte sich schon bald sein krimineller Lebensstil.
Er beging Autodiebstähle, Überfälle, stahl und handelte mit Drogen.
Um sich zu finanzieren, machte er auch einen Schrotthandel auf, über den er seine Hehlerware weiterverkaufen konnte.
Mit der Zeit wurde Dutroux auch polizeibekannt.
In den 1980ern wohnte Dutroux häufig in einem Lieferwagen und fuhr quer durch Belgien.
Er hasste die Gesellschaft.

Es wird vermutet, dass Dutroux in dieser Zeit auch schwerere Delikte beging.
1984 fand man bei Brüssel die Leiche einer jungen Frau. Zeugen berichteten von einem "Marc aus Charleroi", mit dem das Opfer bekannt gewesen sein soll.

Am 04.02.1986 wurde Marc Dutroux mit seiner Lebensgefährtin Michelle Martin wegen Entführung und Missbrauch von fünf jungen Frauen verhaftet. Dutroux hatte pornographische Aufnahmen von seinen Taten gemacht, mit denen er auch handeln wollte.

Am 26.04.1989 wurde Dutroux zu 13 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Michelle Martin zu fünf Jahren. Noch 1989 heirateten beide im Zuchthaus.

Bei seinen Taten in den 1980ern hatte Marc Dutroux Unterstützung von Jean van Peteghem, einem drogensüchtigen "Außenseiter", der unter ungeklärten Umständen nach seiner Haftentlassung Anfang 1991 am 27.08.1991 bei einem Mopedunfall in Lüttich/Liège starb. Er floh angeblich vor etwas und fuhr in einen Bus.
Interessanterweise hatte Dutroux nur kurze Zeit vorher vom 23.08.-24.08.1991 Hafturlaub.

Dutroux hat seinem Mithäftling Daniel Dejasse mitgeteilt, dass er van Peteghem töten wolle.
Dutroux Frau Martin berichtete 1997 auch, dass Dutroux nach van Peteghems Tod zufrieden war und geäußert habe, dass er bei besserem Wissen ihn schon früher getötet hätte.
Dutroux hatte offensichtlich Angst, dass van Peteghem "auspackt". Dieser hatte sich schon vorher von der Bande um Dutroux distanziert und wurde im Gefängnis und danach bedroht.

1992 wurde Dutroux von Melchior Wathelet, dem damaligen Justizminister, begnadigt. Er hatte nur drei Jahre im Zuchthaus abgesessen. Dutroux' Mutter sprach sich in einem Brief an den Zuchthausdirektor gegen diese Begnadigung aus. Es ist auch nicht klar, was Wathelet, der später seine Karriere auch in der EU fortsetzte, zu diesem Entschluss brachte.

Nach Dutroux' Entlassung wurde ihm vom Psychiater Emile Dumont eine seelische Schädigung aufgrund der Haft bescheinigt mit resultierender Erwerbsunfähigkeit auf Lebenszeit. Dutroux erhielt eine staatliche Rente. Die verschriebenen Schlaf- und Beruhigungsmittel setzte er später zur Betäubung und Tötung seiner Opfer ein.

ENTFÜHRUNGEN VON MELISSA RUSSO UND JULIE LEJEUNE SOWIE VON EEFJE LAMBRECKS UND AN MARCHAL


das Haus von Marc Dutroux in Charleroi-Marcinelle


Dutroux baute den Keller eines seiner Häuser im Stadtteil Marcinelle von Charleroi aus.
Zunächst diente er als Versteck für seine Beute aus den Diebstählen, die er weiterhin unternahm, später als Verlies für die gefangenen Kinder und Jugendlichen. Hinter einer massiven Tür, die als Regal getarnt war, befand sich ein 2,15 Meter langer, weniger als 1 Meter breiter und 1,64 Meter hoher Raum.

Am 24.06.1995 wurden Melissa Russo (8) und Julie Lejeune (8) entführt, in Dutroux’ Zelle gefangen gehalten und mehrfach sexuell missbraucht. Später wurde öffentlich diskutiert, ob Dutroux diese Kinder nur für sich selbst entführt hat oder zum Zweck des Handels mit Pornographie und für Sexpartys - was wahrscheinlicher ist.
Am 22.08.1995 wurden Eefje Lambrecks (19) und An Marchal (17) entführt und ebenfalls zum Zweck der Pornographieherstellung vergewaltigt. Da sich im Kellerverlies bereits die beiden achtjährigen Mädchen befanden, sperrte Dutroux Eefje und An im ersten Stock des Hauses ein.

VORÜBERGEHENDE VERHAFTUNG, MORDE AN GEFANGENEN UND AN BERNARD WEINSTEIN SOWIE FAHNDUNGSPANNEN

Da Dutroux wieder in Autodiebstähle verwickelt war, wurde er am 6.12.1995 verhaftet. Bei der Untersuchung der Diebstähle durchsuchte die Polizei auch Dutroux’ Haus, in dem die beiden achtjährigen Mädchen gefangen gehalten wurden. Eefje und An waren zu diesem Zeitpunkt bei einem Komplizen untergebracht oder bereits vergiftet. Der leitende Beamte gab später an, im Keller Kinderstimmen gehört zu haben, nahm jedoch an, sie kämen von der Straße, daher wurden die Mädchen nicht gefunden.

Nach Dutroux’ späteren Aussagen sollte sich seine Frau um die Pflege der Kinder kümmern, während er selbst im Gefängnis war. Michelle Martin ließ die Kinder allerdings verhungern. Eines war bei Dutroux’ Freilassung am 20.03.1996 bereits tot, das andere verstarb nach Dutroux’ Aussage in seinen Armen.


Bernard Weinstein

Vermutlich fällt in diese Zeit (oder etwas früher) auch die Ermordung von Dutroux' Komplizen Bernard Weinstein, der ihn um Geld betrogen hatte und insgesamt zuviel wusste.

WEITERE ERMITTLUNGSFEHLER

Bei den Ermittlungen passierten immer wieder Fehler. So lag den Ermittlern schon im August 1995, einen Monat nach der Entführung von Mélissa und Julie, ein Bericht vor, in dem Dutroux’ vormaliger Komplize Claude Thirault, der der Polizei bereits als Handlanger bei Dutroux’ Raubüberfällen bekannt war, behauptete, Marc Dutroux hätte ihm Geld angeboten, damit er auf einem Dorffest junge Mädchen entführe. Dafür wurden ihm 150.000 Belgische Franc (etwa 3700 Euro) in Aussicht gestellt. Ferner baue Dutroux im Keller eines seiner drei Häuser Zellen.

Die Mutter von Dutroux schrieb nach dem Verschwinden von An Marchal und Eefje Lambrecks einen Brief an den zuständigen Ermittlungsrichter, in dem sie auf Beobachtungen von Hausnachbarn hinwies, dass zwei unbekannte Mädchen in das Haus ihres Sohnes gebracht worden seien. Ausdrücklich wies sie in dem Brief darauf hin, dass es einen Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern geben könne und forderte die Behörden zur Hausdurchsuchung auf, was jedoch nicht geschah.

Trotz der Hinweise und der Vorstrafe des Beschuldigten wurde das Anwesen Dutroux’ erst im Dezember 1995, Monate später, durchsucht, als die vorübergehende Inhaftierung Dutroux’ aufgrund von Autodiebstählen erfolgte. Die neu eingezogene, frisch verputzte Wand fiel den Ermittlern bei der darauffolgenden Durchsuchung trotz der Kinderstimmen nicht auf. Die vielen im Haus gefundenen Videoaufnahmen, auf denen Dutroux zum Teil den Ausbau der Zellen in seinem Haus dokumentiert hatte, wurden nicht durch die Polizei gesichtet oder pauschal als „unauffällig“ klassifiziert.


ENTFÜHRUNGEN VON SABINE DARDENNE UND LAETITIA DELHEZ

Dutroux hörte mit den Entführungen auch jetzt nicht auf, obwohl die Polizei ihm immer dichter auf den Fersen war.
Am 28.05.1996 entführte er die zwölfjährige Sabine Dardenne, indem er sie in seinen Transporter zerrte. Am 09.08.1996 entführte er die 14-jährige Laetitia Delhez. Es ist nicht klar, ob und welche Komplizen dabei waren.
Allerdings traf man bei den polizeilichen Ermittlungen auf einen Augenzeugen, der sich einen Teil von Dutroux' Autokennzeichen gemerkt hatte.


VERHAFTUNGEN UND HEFTIGE ÖFFENTLICHE REAKTIONEN

Die Angaben zu Teilen von Dutroux Autokennzeichen führten schließlich am 13.08.1996 zu seiner Verhaftung. Nicht nur Marc Dutroux sondern auch Michelle Martin und der Komplizen Michel Lelièvre gingen der Polizei jetzt ins Netz.
Am darauffolgenden Tag wurde auch Michel Nihoul verhaftet, der höchstwahrscheinlich auch ein Komplize war, auch wenn er sich später elegant herauszureden versuchte.
Nihoul war von ca. einem Dutzend Zeugen im August 1996 vor dem Schwimmbad von Bertrix gesehen worden, bevor Laetitia Delhez dort entführt wurde. Nihoul hatte für Dutroux die Betäubungsmittel für die Opfer besorgt.
Nach seiner Verhaftung soll Nihoul gesagt haben: "Meine Arme sind so lang wie die Donau."
Er spielte damit auf seine guten Kontakte zu hohen Stellen an. Und in der Tat sollte sein Strafmaß später reduziert werden.


Es kam erneut zu einer Durchsuchung von Dutroux' Häusern, die aber wieder ergebnislos verliefen. Erst durch einen Hinweis von Dutroux selbst konnten die Polizisten Dutroux' Kellerverlies finden und am 15.08.1996 Sabine Dardenne und Laetitia Delhez befreien.
Dutroux führte die Fahnder am 17.08.1996 auch zu den Leichen der verhungerten achtjährigen Mädchen und seines ermordeten Komplizen Bernard Weinstein. Er hatte alle zusammen im Garten eines seiner Häuser vergraben.
Am 03.09.2025 führte Dutroux die Polizei auch zu den Leichen von An und Eefje.

Dutroux stellte sich selber als eine Art Handlanger dar. Er habe die Mädchen nicht nur für sich allein entführt, sondern auch für andere Personen. Dies würden angeblich "höchste Protektion von ganz oben" genießen.
Als Anstifter und Kopf einer Bande von Männern, die Sexualstraftaten an Kindern verübten, beschuldigte Dutroux nach der Verhaftung und während des Prozesses mehrfach Michel Nihoul. In der Tat verfügte der Anwalt, Geschäftsmann und Partyveranstalter Nihoul über beste Kontakte in höhere Gesellschaftskreise.
Nihoul war nur relativ kurz in Untersuchungshaft, aber im April 2003 wurde entschieden, auch ihn vor Gericht zu stellen.

Als die unsagbaren Verbrechen sowie die Ermittlungspannen und wahrscheinlichen Verzögerungstaktiken der belgischen Öffentlichkeit bekannt wurden, kam es zu massiven öffentlichen Protestkundgebungen. Die Polizei hatte Mühe, der Emörung Herr zu werden.
Der Verfolgungsdruck stieg.
Im Oktober 1996 nahmen 300.000 Menschen in Brüssel am "Weißen Marsch" teil.
Im März 1997 wurde auf der Straßenseite gegenüber von Dutroux' Haus in der Avenue de Philippeville 128 in Charleroi-Marcinelle eine Gedenktafel mit folgender Inschrift befestigt:

"En memoire de tous les enfants vicitimes de pédophilie.
(Im Gedenken an alle Kinder, die Opfer der Pädophilie wurden.)"

Gedenktafel in Charleroi


FLUCHT UND ERNEUTE FESTNAHME

Im April 1998 kam es zu einer weiteren schwerwiegenden Panne, als Dutroux in einem Gerichtsgebäude einem seiner Bewacher die Dienstwaffe entreißen und fliehen konnte.
Dies führte zu einem sofortigen Großeinsatz tausender Beamter, der vier Stunden dauerte.
Schließlich wurde Dutroux von Spürhunden in einem Waldstück gefunden.
Die öffentliche Empörung war erneut groß. Innenminister Johan Vande Lanotte und Justizminister Stefaan De Clerck sowie Polizeichef Willy Deridder mussten zurücktreten.
Nach der Festnahme sagte Dutroux zu einem Polizisten: "Ich bin glücklich, wenn ich das Chaos sehe, in das ich Belgien gestürzt habe."


DIE FRAGE NACH HINTERGRUNDSTRUKTUREN UND DOKUMENTATIONEN ZUM FALL

Der kritischen Öffentlichkeit stellte sich die Frage, ob es sich beim Versagen der Ermittler immer nur um Schlamperei handelte oder ob auch System dahintersteckte.
Im weiteren Verlauf der Untersuchungen und Gerichtsverhandlungen wurden immer wieder "übereifrige" Ermittler von dem Fall zurückgezogen. Auffällig war auch eine hohe Sterberate unter Ermittlern, Zeugen und Komplizen.
Dies ließ in der Öffentlichkeit immer mehr die Frage aufkommen, ob Dutroux wirklich nur für sich oder für einen kleinen Kreis von Kriminellen gearbeitet hatte, oder ob er nicht - gerade über seinen Freund Michel Nihoul - viel größere und höhere Kundenkreise von Sexpartys bedient hat, die dann in die Ermittlungen eingriffen und versuchten, diese immer wieder abzudrehen.

Zu dieser Frage erschienen einige wichtige TV-Dokumentationen und Bücher.

Besonders stark schlug die ZDF-Reportage "Die Spur der Kinderschänder - Dutroux und die toten Zeugen" von 2001 ein. In dieser Dokumentation wurde behauptet, dass zwischen der Festnahme Dutroux' und des Prozesses gegen ihn mindestens 27 Menschen aus dem Team der Ermittler, von den Zeugen und aus dem kriminellen Umfeld unter mysteriösen Umständen starben. Ein berühmter Fall war Staatsanwalt Hubert Massa, der angeblich durch Suizid starb.



Die Doku nennt 27 Namen (hier 26):

  • Jean-Paul Taminiau (02.04.1995): sein Fuß wurde in einem Fluss gefunden
  • Alexandre Gosselin (04.07.1995)
  • Francois Reyskens (26.07.1995)
  • Guy Goebels (25.08.1995)
  • Bernard Weinstein (11.1995): ein Komplize Dutroux'; von diesem vergiftet
  • Bruno Tagliaferro (05.11.1995)
  • Simon Poncelet (21.02.1996)
  • Michel Piro (05.12.1996)
  • Joseph Toussaint (05.03.1997)
  • Christiaan Coenrads (07.03.1997)
  • José Steppe (25.04.1997)
  • Gérard Vanesse (16.11.1997)
  • Brigitte Jenart (05.04.1998)
  • Anna Konjevoda (07.04.1998)
  • Gina Pardaens (15.11.1998)
  • Fabienne Jaupart (18.12.1998)
  • Hubert Massa (13.07.1999)
  • Grégory Antipine (15.08.1999)
  • Sandra Claeys (04.11.1999)
  • Jean-Jacques Feront (01.03.2001)
  • Nadège Renard (04.2001?)
  • Bernard Routmond
  • Marie-Louise Henrotte
  • Christoph Vanhexe
  • Pierre-Paul „Pepe“ De Rycke (17.05.2001)
  • Philippe Deleuze (15.11.2001)


Weitere Dokus:

  • 60 Minutes Australia: The Beast of Belgium
  • ZDF-Reportage: "Die Spur der Kinderschänder - Dutroux und die toten Zeugen" (2001)von Piet Eekman
  • ZDF-History: Dutroux und der Fall N. (2004) von Piet Eekman (39 Minuten)
  • WDR: Der Fall Dutroux (2004) von Marcel Kolvenbach (44 Minuten)
  • Arte: Unfassbar - Der Fall Dutroux von Joeri Vlekken; 4-teilig

Die Belgierin Anneke Lucas behauptete im Januar 2017, bereits 1974 von einem Mann gefoltert worden zu sein, der später Mitangeklagter im Dutroux-Prozess gewesen sei, und bestätigte Verbindungen des mutmaßlichen Netzwerkes zu Spitzenbeamten und Kabinettsmitgliedern.
Bis heute gilt der Fall als nicht vollständig aufgeklärt. Ermittler und investigative Journalisten berichteten, die Ermittlungen seien wiederholt behindert worden.


QUELLEN UND LITERATUR

Wikipedia
-
Berger, Alois: Einzeltäter oder Kinderschänderring; Deutschlandfunk, 17.06.2004
"Dutroux ist ein Manipulator"; Aachener Zeitung/dpa, 27.02.2004
Opstal Aurore: Le curieux décès de Van Peteghem; DHnet.be|lesSports, 12.01.2020
FAZ-Dossier zum Fall
-
Coninck, Douglas: Marc Dutroux. Het stilste jongetje van de klas; Antwerpen (Houtekiet) 2004
Schümer, Dirk: Die Kinderfänger; Berlin (Siedler) 1997


Dienstag, 17. Juni 2025

GASTBEITRAG VON EPHOROS:

16./17.06.2025 (ca.) 

Angela Merkel – Deutschlands schlechteste Bundeskanzlerin

Eine kritische Analyse von Angela Merkels Kanzlerschaft im historischen Vergleich



Kriegstreiberei: Merkels Haltung zum Irakkrieg 2003

Angela Merkel fiel bereits vor ihrer Kanzlerschaft durch außenpolitischen Opportunismus auf. Während Gerhard Schröder 2002/03 standhaft blieb und die Bundesrepublik aus dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg herausgehalten hat, suchte Merkel den Schulterschluss mit Washington. Im Februar 2003 reiste sie als CDU-Oppositionsführerin nach Washington und stellte sich demonstrativ hinter George W. Bushs Kriegskurs, anstatt die Haltung der eigenen Regierung zu unterstützen.[1][2] In einem Gastbeitrag für die Washington Post erklärte sie zynisch, Schröder spreche „nicht für alle Deutschen“, womit sie indirekt deutsche Beteiligung am US-Feldzug in Aussicht stellte.[2] Dieser Krieg basierte erwiesenermaßen auf Lügen (Stichwort Massenvernichtungswaffen im Irak) und verstieß gegen das Völkerrecht – doch Merkel signalisierte früh ihre Bereitschaft, Deutschland dennoch hineinzuziehen.[2] Damit diskreditierte sie sich als verantwortungslose Kriegstreiberin, noch bevor sie überhaupt im Amt war. Schröder hingegen bewahrte Deutschland vor diesem Abenteuer – ein gravierender Unterschied, der Merkel schon an diesem Punkt als ungeeignet erscheinen lässt.

Merkels Haltung von 2003 zeigt einen grundlegenden Charakterzug ihrer Kanzlerschaft: Prinzipienlosigkeit zugunsten vermeintlicher Vorteile. Sie stellte parteipolitische und persönliche Kalküle („bei Bush Punkte sammeln“) über die Verantwortung, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Tatsächlich war Merkel nach Amtsantritt auch eng mit Bush befreundet und leistete Wiederaufbauhilfe im Irak, was Schröder verweigert hatte.[1][3] Dieser frühzeitige Eifer, sich an einem illegalen Angriffskrieg zu beteiligen, ist beispiellos unter deutschen Kanzlern der Nachkriegszeit. Selbst Kanzler wie Kohl oder Schmidt, die enge transatlantische Beziehungen pflegten, haben nie in vergleichbarer Weise deutsche Interessen einer fragwürdigen US-Kriegspolitik untergeordnet. Merkels voreilige Parteinahme für Bush gegen die Mehrheitsmeinung der Deutschen – die den Irakkrieg massiv ablehnten – offenbarte ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Wählerwillen. Ein so gravierendes Fehlurteil in einer Frage von Krieg und Frieden legt den Grundstein für ihr fragwürdiges Vermächtnis.

Soziale Kälte: Versagen in Renten- und Sozialpolitik

Während ihrer 16 Jahre an der Macht hat Merkel im Bereich Sozialpolitik keinerlei Verbesserungen für die Schwächsten erreicht – im Gegenteil, die Lage vieler Rentner und Geringverdiener hat sich verschlimmert. Dabei hätte eine so lange Amtszeit genügend Gelegenheit geboten, mutige Reformen anzugehen. Doch Merkel fehlte jeder Ehrgeiz in der Alterssicherung, obwohl sich die Warnsignale häuften. Rentnerarmut stieg in ihrer Ära drastisch an: Schon 2012 lebten rund 400.000 Rentnerinnen und Rentner auf Grundsicherung vom Staat, doppelt so viele wie 2005.[4] Heute müssen Hunderttausende Ältere zur Tafel und Pfandflaschen sammeln, um über die Runden zu kommen.[5] Dieses Bild – Rentnerinnen, die in Mülleimern nach Pfand suchen – ist zum Sinnbild von Merkels sozialer Kälte geworden.[6]

Statt gegenzusteuern, ignorierte Merkel das Problem jahrelang. Im internationalen Vergleich ist Deutschlands Rentenniveau blamabel: In kulturverwandten Nachbarländern wie den Niederlanden, Dänemark oder Österreich bekommen Senioren deutlich mehr. In den Niederlanden erhält jeder Bürger im Rentenalter eine steuerfinanzierte Grundrente von ~1200 €, unabhängig von früheren Einzahlungen. Dänemark zahlt mit der Folkepension sogar rund 2000 € pro Person aus.[7] Österreichs Rentner beziehen im Schnitt ca. 1480 € im Monat, während es in Deutschland nur etwa 1050 € sind – und in Österreich wird 14-mal jährlich ausgezahlt, wodurch der Vorsprung noch größer ist.[8] Deutschland als angebliche Wirtschaftsmacht lässt dagegen viele Menschen nach 45 Beitragsjahren mit 600–800 € Monatsrente abgespeist zurück. Das Ergebnis: Massenhafte Altersarmut in einem der reichsten Länder der Welt.[9][10] Merkel unternahm rein gar nichts, um diese Schieflage zu korrigieren – keine armutsfeste Mindestrente, keine größeren Rentenreformen. Im Gegenteil, sie verwaltete nur das von Schröders Agenda 2010 angerichtete Elend weiter und ließ den Sinkflug des Rentenniveaus ungebremst, trotz voller Kassen in den 2010er Jahren.

Charakteristisch ist auch, mit wem Merkel sich bevorzugt umgab: nicht mit den Tafeln, Sozialverbänden oder Armutsbetroffenen, sondern mit den Wirtschafts-Eliten. Legendär (und skandalös) ist ihr enger Draht zu Josef Ackermann, dem damaligen Deutsche-Bank-Chef. Statt mit Armutsrentnern zu sprechen, lud Merkel 2008 rund 30 Top-Manager zu einem exklusiven Dinner ins Kanzleramt – offiziell zu Ackermanns 60. Geburtstag.[11] Dieses „Geburtstagsessen“ auf Staatskosten wurde als Kungelei zwischen Regierung und Großbankern scharf kritisiert.[12] Merkel wies die Kritik arrogant zurück, was ihr völliges Unverständnis für die soziale Ungerechtigkeit zeigt. Während also die Kanzlerin mit Bankern Champagner trank, mussten immer mehr Rentner zur Suppenküche. Diese Abgehobenheit und Kaltherzigkeit Merkels gegenüber den einfachen Leuten macht sie in den Augen vieler zum Inbegriff einer unsozialen Kanzlerin. Frühere Kanzler – etwa Helmut Schmidt mit seiner bodenständigen Art oder Willy Brandt mit „mehr Demokratie wagen“ – zeigten zumindest Empathie für die kleine Leute. Merkel hingegen wird zur Symbolfigur eines Jahrzehnts, in dem Reiche reicher und Arme ärmer wurden,[13] ohne dass sie politisch gegengesteuert hätte.

Zickzack-Kurs in der Energiepolitik: Atomkraft

Merkels fehlende Prinzipienfestigkeit zeigte sich drastisch in der Atompolitik, wo sie einen beispiellosen Zickzack-Kurs fuhr. Anfangs verlängerte sie die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke – 2010 kassierte ihre schwarz-gelbe Koalition den rot-grünen Atomausstiegsplan und gab den AKWs etliche zusätzliche Betriebsjahre. Merkel galt als Verfechterin der Atomenergie und wollte die Reaktoren noch bis in die 2030er laufen lassen. Doch dann kam im März 2011 die Fukushima-Katastrophe in Japan – und Merkel vollzog binnen weniger Tage die 180-Grad-Wende. Panisch ordnete sie ein sofortiges „Moratorium“ für die ältesten Meiler an und verkündete kurz darauf den vollständigen Atomausstieg bis 2022.[14] Dieser radikale Schwenk wurde selbst von CDU-Parteifreunden als „kopflos“ und rein wahltaktisch kritisiert.[15] Tatsächlich hatte Merkel wenige Monate zuvor das genaue Gegenteil beschlossen[16] – eine „bemerkenswerte Kehrtwende“ nannte es der Guardian, die keinem inneren Erkenntnisprozess entsprang, sondern offenkundig dem öffentlichen Druck geschuldet war.[14] Massendemonstrationen und eine bevorstehende Landtagswahl im grün bewegten Baden-Württemberg (die ihre CDU prompt verlor) ließen Merkel kalte Füße bekommen. Anstatt jedoch geradlinig zur früheren rot-grünen Ausstiegsvereinbarung zu stehen, überholte sie plötzlich alle und setzte einen noch schnelleren Ausstieg durch, nur um das Heft des Handelns nicht zu verlieren.

Diese Populismus-getriebene Hektik hat dem Land enorm geschadet. Investorenvertrauen ging verloren, die Energieversorger klagten erfolgreich auf hohe Entschädigungen wegen der plötzlichen Kehrtwende. Die Bürger waren zu Recht verwirrt: Zuerst erklärte Merkel die Atomkraft zur unverzichtbaren „Brückentechnologie“, dann über Nacht zur Teufelstechnologie. Ein solches Zickzack ohne Linie hat es in diesem Ausmaß unter keinem Vorgänger gegeben. Helmut Kohl etwa hatte trotz wechselnder Umstände an seinem Atomausstieg nach 30 Jahren Laufzeit festgehalten; Schröder hat den Ausstieg planvoll eingeleitet. Merkel hingegen wirkte orientierungslos und nur auf den eigenen Machterhalt bedacht: Hauptsache, sie konnte dem momentanen Meinungswind folgen, um „smooth durch die nächste Wahl“ zu kommen – wie es spöttisch hieß. Diese Beliebigkeit untergrub das Vertrauen in die Verlässlichkeit deutscher Energiepolitik. Statt langfristiger Strategie gab es bei Merkel nur Aktionismus nach Kassenlage bzw. Umfragelage. In einem so kritischen Bereich wie der Energieversorgung ist diese Führungsschwäche besonders fatal. Merkels „Atommoratorium“ 2011 mag kurzfristig ihren Kopf gerettet haben; langfristig offenbarte es aber, dass sie keine Überzeugungen hatte, sondern nur Machttaktik.

Komiker-Nation: Beschneidungsdebatte 2012 und Kinderrechte

Ein weiteres dunkles Kapitel von Merkels Kanzlerschaft ist ihr Umgang mit der Beschneidungsdebatte 2012. Als ein deutsches Gericht (Landgericht Köln) im Juni 2012 urteilte, die rituelle Beschneidung minderjähriger Jungen ohne medizinische Indikation stelle eine Körperverletzung dar, entbrannte eine heftige Diskussion über Religionsfreiheit versus Kindeswohl. Eigentlich eine Gelegenheit für eine sachliche ethische Debatte, in der es um Grundrechte von wehrlosen Kindern ging. Doch Merkel reagierte erneut rein machtpolitisch: Sie stellte sich umgehend und ohne jedes Mitgefühl auf die Seite der religiösen Lobbygruppen (insbesondere Vertreter jüdischer und muslimischer Verbände), die lautstark protestierten. Ihr einziges öffentlich bekanntes Statement in dieser Debatte fiel dann auch bemerkenswert kaltschnäuzig aus: „Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land der Welt ist, in dem Juden ihre Riten nicht ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komikernation.“.[17] Diese Äußerung, intern vor dem CDU-Bundesvorstand getätigt und an die Presse durchgestochen, ist beschämend. Merkel sorgte sich nicht um das körperliche und seelische Leid von Jungen, die ohne ihre Einwilligung einen schmerzhaften und lebenslang entstellenden Eingriff über sich ergehen lassen müssen. Nein – sie sorgte sich allen Ernstes darum, dass Deutschland international als „Komikernation“ (lächerliche Nation) dastehen könnte, falls es das Beschneidungsverbot bestätigen würde.[18] Mit anderen Worten: Das Ansehen bei religiösen Hardlinern war ihr wichtiger als die Unversehrtheit von Kindern.

Folgerichtig hat Merkel dann im Bundestag persönlich für das umstrittene Beschneidungsgesetz gestimmt, das im Dezember 2012 verabschiedet wurde. Dieses Gesetz – von ihrer Regierung eingebracht – erlaubte die religiös motivierte Jungenbeschneidung praktisch uneingeschränkt, sofern „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ vorgegangen wird.[19] Keine Altersgrenze, keine verpflichtende Aufklärung der Eltern über Risiken, nichts dergleichen. Ein alternativer fraktionsübergreifender Antrag, der zumindest eine Mindestaltersgrenze von 14 Jahren für nicht-medizinische Beschneidungen vorgesehen hätte, scheiterte deutlich (nur 91 Stimmen fanden sich dafür, 462 dagegen).[20] Ebenso lehnte die Merkel-Mehrheit mehrere Änderungsanträge ab, die etwa eine ausführlichere Beratung der Eltern oder andere Einschränkungen gefordert hatten.[21] Merkel persönlich drückte das maximal großzügige Gesetz durch, sehr zur Freude der konservativ-religiösen Lobby – und zum Entsetzen von Kinderschutzorganisationen weltweit. Die Botschaft war klar: Tradition vor Kinderrecht, Symbolpolitik vor Ethik.

Damit verpasste Deutschland unter Merkel die Chance, ein deutliches Zeichen gegen unnötige Gewalt an Schutzbefohlenen zu setzen. Andere liberale Demokratien (Schweden, Dänemark etc.) diskutieren längst Altersgrenzen oder Verbote der Kinderbeschneidung. Merkel jedoch wollte „Ruhe im Karton“ und handelte nach dem Prinzip: Nur keine konservative Minderheit vor den Kopf stoßen, egal wie berechtigt die Kritik an der Praxis ist. Ihr Spruch von der „Komikernation“ offenbart eine zynische Geringschätzung für humanitäre Prinzipien – aus Angst, ein Verbot könne als witzig oder skurril erscheinen, ließ sie lieber schwere körperliche Eingriffe an Babys weiterhin zu. Kein Kanzler vor ihr hat eine so armselige Figur gemacht in einer ethischen Grundsatzfrage. Helmut Schmidt etwa bewies in den 1970ern Mut, als er gegen starken Widerstand die Strafrechtsreform mittrug – er argumentierte sachlich und moralisch. Merkel hingegen feixte über die Möglichkeit, Deutschland könne als moralische Instanz belächelt werden, und knickte ein. Dies war charakterlich schwach und eines führenden Amtes unwürdig.

2015: Merkels Kontrollverlust in der Flüchtlingskrise und Aufstieg der AfD

Untrennbar mit Merkels Vermächtnis verbunden ist das Jahr 2015, als ihre Fehlentscheidungen in der Migrationspolitik tiefe Spuren hinterließen. Im Spätsommer jenes Jahres spitzte sich die Lage an der europäischen Südgrenze zu: Hunderttausende Kriegsflüchtlinge und Migranten, vor allem aus Syrien, Irak und Afghanistan, zogen Richtung Zentraleuropa. Merkel entschied am 4. September 2015, die deutschen Grenzen offen zu lassen, statt – wie andere EU-Staaten – die Dublin-Regeln strikt anzuwenden und die Menschen an der EU-Außengrenze registrieren zu lassen. Konkret bedeutete das: Tausende, die in Ungarn festsaßen, durften ohne Kontrolle über Österreich nach Deutschland einreisen. Merkel rief der Nation und der Welt ein optimistisches „Wir schaffen das!“ zu. Anfangs fand dieser Kurs viel Beifall – Deutschland erschien humanitär vorbildlich. Doch Merkel hatte keinen Plan, wie die langfristige Unterbringung, Integration und Sicherung der Grenzen organisiert werden sollte. Es kam, wie es kommen musste: Über eine Million Menschen strömten 2015/16 ins Land,[22] die Behörden waren heillos überfordert, in vielen Kommunen kippte die Stimmung. Merkel selbst musste einräumen, dass man zeitweise „nicht genügend Kontrolle“ an der Grenze gehabt habe[23] – ein erstaunliches Eingeständnis des Staatsversagens, das in dieser Form beispiellos für einen deutschen Nachkriegskanzler ist.

Merkel inszenierte sich zwar medienwirksam – man erinnere sich an die berühmten Selfies mit Neuankömmlingen –, doch diese Bilder wirkten wie ein Signal in die Welt: „Kommt nur, Deutschland heißt euch willkommen.“ Dass deutsche Kommunen, Schulen und Sozialsysteme vielerorts nicht auf einen derartigen Ansturm vorbereitet waren, kümmerte die Kanzlerin wenig. Ohne breite Abstimmung mit Nachbarstaaten oder den eigenen Bürgern traf sie die folgenreichste Entscheidung ihrer Amtszeit im Alleingang. Innenpolitisch hatte dies verheerende Konsequenzen: Ein erheblicher Teil der Bevölkerung fühlte sich übergangen und verunsichert. Im Gefolge der unkontrollierten Zuwanderung schoss die rechtspopulistische AfD von unter 5 % auf über 20 % – bis heute zehrt sie von dem Anti-Merkel-Stimmungskapital, das damals entstanden ist.[24] Merkels Satz „Wir schaffen das“ wurde von ihren Gegnern sarkastisch umgewandelt in „Ihr schafft das Land ab“. Sie hat mit ihrer naiven Öffnungspolitik der extremen Rechten den größten Auftrieb seit den 1950er Jahren verschafft. Inzwischen ist die AfD in vielen Landtagen und im Bundestag die größte Oppositionspartei – ein Albtraum-Szenario, das ohne Merkels Fehler 2015 so nicht eingetreten wäre.

Man muss festhalten: Flüchtlingspolitik erfordert Augenmaß und Konsensbildung. Andere Länder wie Australien oder Kanada kombinieren Humanität mit konsequenter Kontrolle – spontane Masseneinreisen ohne Papiere erlauben sie nicht. Merkel hingegen verursachte einen Kontrollverlust, der Europa jahrelang entzweit hat. Selbst 2016/17, als klar wurde, dass „Wir schaffen das“ so nicht aufgeht, blieb Merkel stur und lehnte eine Kurskorrektur ab. Erst der Druck der EU-Partner (Türkei-Deal, Schließung der Balkanroute) beruhigte die Lage etwas – aber da war der politische Flurschaden längst angerichtet. Diese Episode zeigt Merkels Regierungsstil in Reinform: Aktionismus ohne Weitsicht, regieren per Bauchgefühl, Symbolpolitik statt Strategie. Kein Kanzler vor ihr hat innenpolitisch derart die Büchse der Pandora geöffnet. Konrad Adenauer bewahrte das Land in Krisenzeiten vor Radikalisierung; selbst Helmut Kohl hielt trotz Asylkompromiss und Einheitsstress den rechten Rand klein. Merkel hingegen hat es geschafft, die lange marginale extreme Rechte salonfähig zu machen – indirekt, aber vorhersehbar. Sollte in einigen Jahren tatsächlich einmal eine AfD-Kanzlerin (z.B. Alice Weidel) oder ein Rechtsextremer (Björn Höcke) ins höchste Amt gelangen, wird Merkels 2015er Entscheidung im historischen Rückblick als Auslöser ausgemacht werden. Dieser Kollateralschaden ihrer gutgemeinten, aber schlecht gemachten Flüchtlingspolitik trägt erheblich zu ihrem negativen Gesamturteil bei.

Geopolitisches Fehlmanagement: Russische Gas-Abhängigkeit und China-Politik

Merkels Bilanz ist auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik verheerend kurzsichtig. Zwei Beispiele stechen hervor: die Energieabhängigkeit von Russland und die China-Strategie.

1. Russland und Energie: Merkel hat Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit von Putins Russland manövriert. Trotz aller Warnungen (insbesondere osteuropäischer Nachbarn) hielt sie eisern an Pipeline-Projekten wie Nord Stream 2 fest und förderte den Import von immer mehr russischem Gas. Sogar nach der Krim-Annexion 2014 ließ ihre Regierung noch deutsche Gasspeicher an Gazprom verkaufen – ein strategischer Fehler ersten Ranges.[25] Grüne Politiker werfen Merkel zu Recht vor, sie habe die Risiken gekannt und bewusst ignoriert, entgegen ihrem Amtseid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.[26] Heute wissen wir: Diese Ignoranz hat Russland ermutigt und Deutschland erpressbar gemacht. Merkel wusste um die Gefahr, aber sie schwieg Kritik aus der CDU und der EU weg und wiegelte Bedenken ab („Wir machen uns unter keinen Umständen abhängig“, so ihre abwiegelnden Worte 2018). Faktisch hat sie aber genau das getan: Deutschland zunehmend abhängig von russischer Energie gemacht – was Putin als Werkzeug nutzte. Früheren Kanzlern wäre so ein sicherheitspolitisches Versagen kaum passiert. Helmut Schmidt diversifizierte die Energieversorgung nach den Ölkrisen, Kohl trieb den europäischen Energiebinnenmarkt voran. Merkel hingegen verließ sich blind auf einen Autokraten – ein verhängnisvoller Kurzschluss, dessen Folgen (Explosion der Gaspreise 2022, Versorgungsunsicherheit) nach ihrem Abgang die Bürger ausbaden mussten. Das Krisenmanagement der Ampel-Regierung 2022/23 (Notkäufe, LNG-Terminals) wurde dringend nötig, weil Merkel uns in diese Lage gebracht hatte.

2. China-Politik: Ähnlich kurzfristig-profitgetrieben gestaltete sich Merkels Umgang mit China. Sie setzte voll auf „Wandel durch Handel“ – die Idee, man müsse nur immer mehr Geschäfte mit der kommunistischen Diktatur machen, dann werde diese sich schon liberalisieren. Diese Strategie gilt heute als krachend gescheitert. Merkel und ihre Regierungen priorisierten über Jahre Exportsummen über Menschenrechte, sie hofierten Pekings Machthaber, um der deutschen Industrie Absatzmärkte zu sichern.[27] Tatsächlich wurden aber deutsche Schlüsselindustrien angreifbar: China kaufte unter Merkel etwa den Robotik-Weltmarktführer KUKA auf, eignete sich deutsches Know-how an und schwingt sich nun selbst zum High-Tech-Konkurrenten auf. Warnungen vor dieser Entwicklung schlug Merkel in den Wind. Deutsche Konzerne wie VW, BASF oder Siemens investierten massiv in China – Merkel applaudierte, obwohl z.B. VW in Xinjiang (wo Uiguren in Lagern interniert sind) ein Werk betreibt.[28] Ihr fehlte der Mut, Peking klare Grenzen zu setzen, etwa beim 5G-Ausbau (Stichwort Huawei-Beteiligung) oder bei Sanktionen wegen Hongkong und Xinjiang. Noch 2020 drängte Merkel im EU-Rahmen auf ein Investitionsabkommen mit China, das einseitig den deutschen Autokonzernen nützen sollte – während gleichzeitig Chinas Regierung Hongkonger Demokratiebewegte unterdrückte und Taiwan militärisch bedrohte.[29] Moralische Werte oder langfristige Strategien zählten bei Merkel in Bezug auf China wenig; kurzsichtige Geschäfte gingen vor.[30] Dieses „blinde Vertrauen ins freie Spiel der Märkte“ gegenüber einer Diktatur hat Deutschland und Europa in eine schwache Position manövriert. Heute ist klar: Peking hat sich nicht durch Handel gewandelt, sondern ist aggressiver denn je. Der deutsche „Wandel durch Handel“-Ansatz war naiv, ja zynisch, weil er vom Wandel gar nicht ernsthaft ausging.[30] Merkel hat wertvolle Jahre vertan, in denen man China hätte eindämmen können, und stattdessen Deutschlands Wirtschaft in riskante Abhängigkeiten verstrickt. Ihr Nachfolger Olaf Scholz musste die schmerzhafte Zeitenwende nachholen, die Merkel verschlafen hat.

In beiden Fällen – Russland und China – zeigt sich ein Muster: Merkel setzte auf kurzfristigen Vorteil (billiges Gas, Exportgewinne), ignorierte mahnende Stimmen und verzichtete auf eine wertebasierte, langfristig kluge Außenpolitik. Die Quittung folgte prompt: Russland führte Krieg und drehte den Gashahn zu; China zeigt sich als systemischer Rivale, der Europas Einheit gefährdet. Merkel hinterlässt hier ein außenpolitisches Trümmerfeld. Kanzler wie Adenauer oder Brandt kombinierten wirtschaftliche Interessen stets mit klarer Westbindung bzw. Entspannungspolitik – also einer übergeordneten Strategie. Merkel hingegen taumelte opportunistisch zwischen Moskau, Peking und Washington hin und her, ohne Kompass. Dass sie von US-Präsident Obama einst als „Leader of the Free World“ geadelt wurde, erscheint im Rückblick ironisch: In Wahrheit fehlte Merkel jegliche visionäre Führungsstärke auf der Weltbühne. Sie agierte zögerlich, reaktiv und oft falsch einschätzend. So hat sie Deutschlands internationale Position langfristig geschwächt.

Fazit: Schlechteste Kanzlerin aller Zeiten

Angela Merkel mag lange Zeit beliebt gewesen sein, doch die Bilanz ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft fällt nüchtern betrachtet desaströs aus. Die oben genannten Beispiele – und es ließen sich noch mehr finden – zeigen ein Muster aus Zaudern, Fehlentscheidungen und Prinzipienlosigkeit, das kein anderer Bundeskanzler in dieser Dichte aufweist. Zum Abschluss lohnt ein kurzer Blick auf ihre Vorgänger, um das Urteil einzuordnen:

  • Konrad Adenauer (CDU, 1949–63) – Trotz umstrittener Aspekte legte er den Grundstein für Deutschlands Westbindung, NATO-Mitgliedschaft und Wirtschaftswunder. Er bewahrte das Land vor dem Abdriften in Ostblock-Abhängigkeit. Positive Vision: Westintegration, Versöhnung mit Frankreich. Merkel dagegen hinterließ ein zutiefst gespaltenes Europa (Eurokrise, Flüchtlingskrise) und erhöhte Abhängigkeiten von Autokraten.

  • Willy Brandt (SPD, 1969–74) – Leitete die Ostpolitik ein, entspannte den Kalten Krieg, bekam den Friedensnobelpreis. Innenpolitisch Reformen (mehr Demokratie, Sozialstaat-Ausbau). Moralisches Format: Kniefall von Warschau. Merkel hingegen erntete nie vergleichbare Achtung – sie fuhr keinen einzigen echten Reformkurs und vermied mutige Gesten.

  • Helmut Schmidt (SPD, 1974–82) – Bewältigte Ölkrise und Terrorismus der RAF mit kühlem Kopf. Genießt bis heute den Ruf eines tatkräftigen Krisenmanagers. Merkel zeigte in Krisen dagegen oft Zaudern oder Alleingänge ohne Plan. Schmidt stärkte zudem die Sozialsysteme moderat; Merkel ließ sie erodieren.

  • Helmut Kohl (CDU, 1982–98) – Längster Kanzler neben Merkel. Architekt der Deutschen Einheit und Mitgestalter der EU (Maastricht-Vertrag). Hatte historische Weitsicht, trotz Fehlern (Spendenaffäre). Merkel fehlen vergleichbare Verdienste völlig.

  • Gerhard Schröder (SPD, 1998–2005) – Umstritten wegen Hartz-IV-Reformen, aber immerhin modernisierte er Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Vor allem aber bewahrte Schröder Deutschland 2003 vor dem Irakkrieg – eine mutige Entscheidung gegen einen US-Präsidenten, die international Respekt einbrachte.[2] Merkel hätte hier das Land ins Chaos eines völkerrechtswidrigen Krieges geführt. Schröders Nähe zu Putin kann man kritisieren; doch Merkel setzte Putin politisch sogar weniger Grenzen (Nord Stream 2) als Schröder, der zumindest einen Gaskompromiss (Nord Stream 1) in friedlicheren Zeiten abschloss.

Die anderen schwachen Kanzler neben Merkel, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, waren beide nicht lange im Amt (jeweils nur etwa drei Jahre). Erhard hat als Wirtschaftsminister sicher ein großes Vermächtnis, aber als Bundeskanzler blieben beide unbedeutend und konnten zumindest keinen so großen Schaden anrichten wie Angela Merkel in ihren 16 Jahren. Ihr Nachfolger Olaf Scholz war weitgehend damit beschäftigt, die hier erörterten, von Merkel begangenen Fehler auszubügeln und den Stillstand in wichtigen Politikfeldern zu überwinden.

Natürlich gab es auch unter den anderen Kanzlern Fehler und Skandale. Doch keiner vereint so viele verschiedene Felder des Misserfolgs auf sich wie Merkel: Außenpolitik (Iraq-Fehlgriff, Russland, China), Innenpolitik (Sozialabbau, Rentnerarmut), Gesellschaftspolitik (körperliche Unversehrtheit von Kindern, Spaltung durch Migrationskurs) und Energie/Umwelt (Atom- und Klimapolitik-Zickzack) – überall hinterlässt sie Scherben. Ihre Amtszeit wirkt im Rückblick wie eine Phase des politischen Stillstands in guten Zeiten und des Krisenmanagements per Kurzschluss in schlechten Zeiten. Visionen oder nachhaltige Verbesserungen blieben aus.

Angela Merkel war sicherlich eine geschickte Taktiererin, die sich lange an der Macht halten konnte. Doch genau diese Taktiererei ohne Prinzipien ist ihr Vermächtnis: Sie hat 16 Jahre lang Probleme ausgesessen, Fehlentwicklungen zugelassen oder verschlimmert und dem Land am Ende einen hohen Preis hinterlassen – sei es in Form einer erstarkten extremen Rechten, eines angeknacksten Sozialsystems oder strategischer Abhängigkeiten. In der Summe der Versäumnisse ist Merkel daher – so hart es klingt – die schlechteste Kanzlerin, die die Bundesrepublik Deutschland je hatte. Ihre Regierungszeit wird künftig als Warnung dienen, wie eine Politikerin ohne klare Werteorientierung ein Land zwar durch ruhige Fahrwasser schippern kann, dabei aber die gefährlichen Riffe übersieht, an denen das Schiff letztlich leckschlägt. Merkel hat Deutschland politisch wie gesellschaftlich einen Bumerang mit auf den Weg gegeben, dessen volle Wucht erst nach ihrem Abgang spürbar wurde. Das macht ihr Erbe so negativ und einzigartig unter den Kanzlern der BRD.

Quellen: Die Argumente und Fakten stützen sich auf eine Vielzahl von Presseberichten, Analysen und zeitgenössischen Quellen. Beispielsweise dokumentiert Der Spiegel Merkels Unterstützung für Bushs Irakkrieg[1], und die World Socialist Web Site bezeichnet diesen als völkerrechtswidrig und von Merkel explizit gutgeheißen[2]. Zur Sozialpolitik liefern ZDF heute und RND Zahlen, die den eklatanten Rückstand deutscher Renten gegenüber Dänemark und Österreich belegen.[7][8] Die Süddeutsche Zeitung und Euronews berichten eindrücklich über steigende Altersarmut und Tafelnutzung im Merkeldeutschland.[4][5] Merkels umstrittenes Dinner mit Ackermann im Kanzleramt ist durch Spiegel und Tagesspiegel belegt.[11] Der panische Atomkurswechsel 2011 wird im Guardian als kopfloser U-Turn beschrieben.[14] Merkels „Komikernation“-Zitat zur Beschneidung verbreitete die Welt[18] und Focus[17]; der Gesetzgebungsverlauf ist im Bundestagsarchiv dokumentiert[20]. Ihre Flüchtlingspolitik rechtfertigte Merkel selbst in der Welt am Sonntag rückblickend, gestand aber Kontrollverlust und den AfD-Aufstieg ein.[31] Zur Russland- und Chinapolitik kritisieren u.a. ZDF und Foreign Policy ihr Versagen: Grüne Politiker attestieren ihr das bewusste Ignorieren von Gas-Abhängigkeitsrisiken[26], und Experten nennen China gar Merkels „größtes Scheitern“ – sie habe kurzfristige Profite über Werte gestellt[29][30]. All diese Quellen untermauern das Gesamtbild einer Kanzlerin, deren Mangel an strategischer Weitsicht und Mut zu echten Verbesserungen sie zur schlechtesten Amtsinhaberin der bundesdeutschen Geschichte machen.





[1] The World from Berlin: Merkel, Texas, and Beyond - DER SPIEGEL
https://www.spiegel.de/international/the-world-from-berlin-merkel-texas-and-beyond-a-394866.html

[2], [3] Merkel’s farewell visit to Washington - World Socialist Web Site
https://www.wsws.org/en/articles/2021/07/17/merk-j17.html

[4], [6], [13] Situation von Rentnern - Wie alt ist die Armut? - Wirtschaft - SZ.de
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/gutachten-zur-finanziellen-situation-von-rentnern-wie-alt-ist-die-armut-1.1553433

[5] Deutschland: deutlicher Anstieg bei Tafel-Kunden | Euronews
https://de.euronews.com/2019/09/19/deutschland-deutlicher-anstieg-bei-tafel-kunden

[7] Rente ab 70: Dänemark setzt in Europa neues Hoch für Rentenalter
https://www.zdfheute.de/politik/ausland/rente-daenemark-renteneintrittsalter-siebzig-100.html

[8] Österreich: Rente im Durchschnitt 400 Euro höher als in Deutschland
https://www.rnd.de/politik/oesterreich-rente-im-durchschnitt-400-euro-hoeher-als-in-deutschland-MTFNS2G7MFESLNE7C6ZPFMN7G4.html

[9], [10] Increased risk of poverty for German retirees - World Socialist Web Site
https://www.wsws.org/en/articles/2012/01/germ-j03.html

[11], [12] Gerichtsentscheid: Merkel muss Gästeliste von Ackermann-Dinner offenlegen - DER SPIEGEL
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gerichtsentscheid-merkel-muss-gaesteliste-von-ackermann-dinner-offenlegen-a-755745.html

[14], [15], [16] Germany to shut all nuclear reactors | Germany | The Guardian
https://www.theguardian.com/world/2011/may/30/germany-to-shut-nuclear-reactors

[17] „Wir machen uns zur Komikernation“: Merkel will Beschneidungen billigen - FOCUS online
https://www.focus.de/politik/deutschland/merkel-will-beschneidungen-billigen-wir-machen-uns-zur-komikernation_id_2078691.html

[18] Beschneidung: Merkel – „Wir machen uns zur Komikernation“ - WELT
https://www.welt.de/politik/deutschland/article108304605/Merkel-Wir-machen-uns-zur-Komikernation.html

[19], [20], [21] Deutscher Bundestag - Beschneidung von Jungen jetzt gesetzlich geregelt
https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/42042381_kw50_de_beschneidung-210238

[22], [23], [24], [31] Angela Merkel defends open border migration policy – POLITICO
https://www.politico.eu/article/angela-merkel-defends-open-border-migration-refugee-policy-germany/

[25], [26] Grüne kritisieren Angela Merkel wegen Umgang mit russischem Gas
https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/gruene-merkel-kritik-gas-russland-100.html

[27], [28], [30] Germany’s China Policy of ‘Change Through Trade’ Has Failed | Royal United Services Institute
https://www.rusi.org/explore-our-research/publications/commentary/germanys-china-policy-change-through-trade-has-failed

[29] Merkel Picked Fictional Profits Over Real Values in China Deals
https://foreignpolicy.com/2020/09/15/china-merkel-trade-germany-failure-covid-19/

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Donnerstag, 5. Juni 2025

PODCAST: GESCHICHTE DES BEWUSSTSEINS

17.08.2016 (07:50) - 05.06.2025

Das Gehirn mit beiden Hemisphären und Denkbereichen.


1. Einteilung der Geschichte als akademische Disziplin

Die Geschichte als akademische Disziplin lässt sich in verschiedene Bereiche untergliedern. Das ist an sich nicht neu.
Beispielsweise spricht man von Politischer Geschichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte usw. Auch in Klausuren werden gerne derartige Erörterungseinteilungen verlangt, also zum Beispiel politisch - sozial - wirtschaftlich.
Es könnten noch viele andere Unterdisziplinen der Geschichte genannt und angewendet werden.

Ein Bereich aber, der häufig vernachlässigt wird, ist die Bewusstseinsgeschichte - genauso wie übrigens die Betrachtung des Bewusstseins selbst.

Die Bewusstseinsgeschichte grenzt an historische Unterdisziplinen, die es bereits gibt, namentlich die Geistesgeschichte, die Kulturgeschichte oder die psychologische Geschichte (nicht nur die Geschichte der Disziplin Psychologie). 
Sie ist aber nicht mit diesen historischen Unterdisziplinen identisch.


2. Idealismus, Materialismus und Dualismus

Wenn wir die Bewusstseinsgeschichte betonten, bedeutet das nicht, dass die anderen Bereiche unwichtig wären und es bedeutet auch nicht, dass die materiellen Grundlagen wie wirtschaftliche Produktion und biologisches Funktionieren unwichtig wären.
Man denke an den Biologischen Materialismus eines Julien Offray de LaMettrie oder den Ökonomischen Materialismus eines Karl Marx.
Wir erinnern uns da auch an diverse Streitereien in der Philosophie zwischen Idealisten, Materialisten und Dualisten (- als vermittelnde Meinung?).
Eine frühe Ausformung nahm der Idealismus schon bei Platon an, später wurde er von vielen Denkern ausdifferenziert, beispielsweise im deutschen Idealismus. 
Der Materialismus hatte frühe Ausprägungen bei den griechischen Atomisten wie Leukipp, Demokrit und Epikur und wirkte später im französischen Materialismus oder im Materialismus eines Ludwig Feuerbach oder Karl Marx, die als Jung- bzw. Linkshegelianer gewissermaßen auch auf den deutschen Idealismus antworteten.
Materialismus findet man aber auch als "abweichende Ansätze" (Nastika[s]) der Indischen Philosophie.
Der Dualismus erscheint z. B. in den Denkansätzen von René Descartes.
Aber auch das sind nur Beispiele.

gedankenwelt.de

Selbst wenn man materialistisch denkt, also dass der Geist von der Materie abhängig ist und nicht völlig unabhängig existiert, so muss man überlegen, ob man Geist und Bewusstsein nicht doch eine gewisse Autonomie zugesteht.
Wir stimmen den Materialisten in soweit zu, dass das menschliche Bewusstsein abhängig ist vom Funktionieren des Körpers. Ohne den Körper kann es nicht mehr sein. Das heißt aber nicht, dass so etwas wie Bewusstsein unwichtig wäre oder überhaupt nicht existiert.

Wir halten Bewusstsein weder für eine metaphysische Entität wie viele Religionen, schon gar nicht für eine unsterbliche, noch wollen wir den Begriff auf seine Bedeutung in den Bereichen Esoterik und "New-Äitsch" verengt wissen.


3. Geist und Bewusstsein

Im weiteren Sinne könnte man das Bewusstsein dennoch als Geist verstanden wissen, wenn auch eben nicht in einer metaphysischen Bedeutung.
Aber eine völlige Gleichsetzung der Begriffe Bewusstsein und Geist wäre eine Verengung. Denn der Begriff Bewusstsein setzt andere Nuancen.
Der Begriff Geist ist eher intellektuell gemeint.
Geistesgeschichte meint beispielsweise eher die Geschichte geistiger Auffassungen, Produkte und Konstrukte sowie von geistigen Leistungen wie mathematische Forschung oder literarische Werke. Auch Weltbetrachtungen können darunter sein oder vieles andere. Es geht also um geistige Tätigkeit und die daraus entstandenen kulturellen Gebilde.

Bewusstsein meint etwas Ähnliches, konzentriert sich aber stärker darauf, wie der Mensch die Welt subjektiv erlebt und empfindet. Es geht quasi darum, sich direkt in den Menschen hineinzuversetzen.


4. Die Darstellung von Bewusstseinsinhalten

Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert kam das Ziel der Darstellung von Bewusstseinsinhalten auch computertechnisch auf die Agenda. Man konnte zwar noch nicht direkt in den Menschen hineingucken, aber man konnte jetzt immer bessere 3D-Welten entwickeln, die aus der Ego-Perspektive erlebbar waren. 

Mit der Erfahrbarkeit und Mitteilbarkeit von (3D-)Bewusstseinswelten am Computer ist ein jahrtausendealter Traum der Menschheit in Erfüllung gegangen, ohne dass dieses von den vielen 3D-Computerspielern ausreichend gewürdigt würde.

Denn früher mussten Menschen sich diesem Zustand über mündliche Erzählung nähern, dann mit Hilfe der Schrift, mit Zeichnungen, Malerei und mit Nachspielen, aus dem sich dann immer mehr die szenische Darstellung im Theater entwickelte. Szene hieß zunächst einmal nur Zelt.
Diese verschiedenen Darstellungsformen konnten nebeneinander existieren. Erzählungen wurden früher oft in Versform entwickelt, später mehr in Prosa.

Erst im 19. Jahrhundert kam dann die Photographie und schließlich zum Ende des Jahrhunderts der Film auf, der dann im 20. und 21. Jahrhundert technisch extrem verfeinert werden konnte. Schließlich kamen gegen Ende des 20. Jahrhundert leistungsfähige Computer auf, die die erwähnte Darstellung von dreidimensionalen Welten ermöglichten.

Bis zu diesen technischen Neuerungen in Folge der Industrialisierung und Technisierung war es aber ein weiter Weg. Zunächst einmal entwickelte sich das menschliche Bewusstsein ohne sie.


5. Die historische Bewusstseinsforschung

Julian Jaynes

Und da ist nun der Punkt an dem die Bewusstseinsgeschichte ansetzen muss: 
WAS hatte der Mensch in seinem Bewusstsein?

Wir haben kulturelle Erzeugnisse, die andeuten, wie Menschen früherer Epochen gedacht haben mögen.

Der Französische Mediävist Philippe Ariès hat sich z. B. von der historischen Demographie zur Mentalitätsgeschichte entwickelt. Er hat die Geschichte der Kindheit erforscht, aber dann auch mit seinen Kollegen Georges Duby und Paul Veyne das Privatleben. Ariès arbeitete auch mit Michel Foucault zusammen.

Einen anderen Antwortansatz, wie sich das menschliche Bewusstsein in der Geschichte entwickelt hat, liefert uns Julian Jaynes (27.02.1920 - 21.11.1997). 
Jaynes beschäftigte sich sich mit dem Zusammenhang zwischen Psychologie und Geschichte und kam zu der Ansicht, dass es ein (Ich-)Bewusstsein im modernen Sinne anfangs nicht gegeben hat. Seiner Meinung nach gab es früher eine bikamerale Psyche, also eine Psyche, die aus zwei Kammern besteht, nämlich einer göttlichen und einer menschlichen.

Nach Jaynes ist diese bikamerale Psyche dann zusammengebrochen, in vielen Kulturen des Mittelmeerraumes in der späten Bronzezeit um 1000 v. Chr. Hierfür ist schon ein Zeitrahmen von mehreren Jahrhunderten denkbar, z. B. von 1300 - 700 v. Chr.

Jaynes' Forschung zielte darauf ab, diese einfache aber schlagende These anhand von historischen und literarischen Quellen zu belegen. Seine eigene Erfahrung einer religiösen Erziehung, der er dann zunehmend kritisch gegenüberstand, half ihm dabei.

Man kann sich diesen Denkansatz ganz konkret vorstellen:
Bei Homer werden heroische Geschichten aus dem mykenischen Griechenland vor 1000 v. Chr. erzählt, bei denen die Helden immer wieder göttliche Befehle erhalten und oft befolgen.
Es entsteht der Eindruck, sie hätten in sich nicht ein Ich, sondern eben eine bikamerale Psyche.
Später ging dann dieses Denken immer mehr zurück und in der griechischen Philosophie entstand ein Ich-Bewusstsein.


Anzeichen einer bikameralen Psyche lassen sich auch in der ägyptischen Literatur und in Inschriften feststellen, ebenso in Mesopotamien.

Julian Jaynes wurde leider für seinen innovativen Ansatz in der Scientific Community sehr gemobbt, was sich negativ auf seine Gesundheit auswirkte.

Leider konnte er deshalb nur bedingt weiterforschen. Es wäre z. B. interessant gewesen, wenn er tiefer hätte erforschen können, ob bei Selbstmordattentätern diese bikamerale Psyche wiederhergestellt wurde.

So haben wir von Julian Jaynes über dieses wichtige Thema leider nur ein Hauptwerk, sowie mehrere Aufsätze und Interviews.
The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind. Houghton Mifflin, Boston/New York 1976

www.julianjaynes.org

Der Ansatz von Julian Jaynes wird heute von der Julian-Jaynes-Society fortgesetzt. In deren Namen hat Marcel Kuijsten das Werk The Julian Jaynes Collection von 2012 herausgegeben.

Ingo Wolf-Kittel stellte Jaynes Thesen kompakt dar und konfrontierte sie mit modernen Erkenntnissen in seinem Artikel Julian Jaynes. Ein moderner Blick auf die Mutation vom mythischen zum mentalen Bewusstsein. In Erinnerung an sein vor 30 Jahren erschienenes Werk.