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Dieser Universal-Blog ist aus einer Seite für Geschichte, Politik (und Realienkunde) hervorgegangen, die sich dann in Richtung Humanwissenschaften weiterentwickelt hat.
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Freitag, 1. August 2025

RAYMOND BOUDON

01.08.2025 

Raymond Boudon (2008)


* 27.01.1934 in Paris

+ 10.04.2013

Raymond Boudon war ein französischer Soziologe und Philosoph.

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LEBEN

Raymond Boudon studierte ab 1954 Philosophie an der Ecole Normale Supérieur (Paris) und wandte sich dann immer mehr den Sozialwissenschaften zu.

Von 1961 - 62 hatte Boudon einen Gastaufenthalt an der Columbia University (New York). Dort traf er die Forscher Paul F(elix) Lazarsfeld (1901 - 1976 und Robert K(ing) Merton (1910 - 2003).
Paul Lazarsfeld war ein österreichischer Jude, der sich in Studien und Aktionen sehr genau mit dem Schicksal der Arbeiterklasse auseinandersetzte.
1933 ging er in die USA und 1935 beschloss er, dort zu bleiben. Lazarsfeld nannte sich danach "Marxist on leave", was mit Marxist auf Urlaub übersetzt wird. Nicht ganz klar ist, ob er damit den Umzug in die USA meinte oder den Wegzug von den marxistischen Dogmen seines früheren Lebens.
Boudon arbeitete von 1962 bis 1964 am Centre d'Études Sociologiques (Paris) an seiner These für ein "doctorat d'état" (in etwa eine Habilitation).
Noch 1964 wurde er an der Universität Bordeaux Professor.
1967 übernahm Boudon die neue Professur für Methodologie der Sozialwissenschaften an der Universität Parix IV (Paris-Sorbonne). Hier blieb er bis zum Ende seiner akademischen Laufbahn.


WISSENSCHAFT UND METHODIK

Raymond Boudon war ein Pionier der mathematischen Modellierung innerhalb der französischen Soziologie. Er griff hier auch angelsächsische Ideen auf.
Es ging Boudon neben statistischen Analysen auch um eine "generative" Theoriebildung.

Boudons Forschungsinteresse galt dabei v. a. sozialer Mobilität und ungleichen Bildungschancen.
In "L'inégalité des chances" von 1973 ("Education, Opportunity, and Social Inequality"; 1974, überarbeitet) setzt Boudon bei der Erforschung sozialer Mobilität und Ungleichheit auf einen handlungstheoretischen Ansatz (h. Perspektive) statt auf die damals übliche Variablen-Soziologie (Otis Duncan; Robert Hauser).

Boudon vertrat einen methodologischen Individualismus, der soziale Phänomene durch Annahmen über das Handeln von Individuen erklären wollte.

Durch die Erklärung makrosoziologischer Tatbestände durch mikrosoziologische Handlungsmodelle entwickelte Boudon die Theorie der rationalen Entscheidung (Rational-Choice-Theorie) weiter.

Seit den 1980ern setzte sich Boudon auch verstärkt mit dem Begriff Ideologie auseinander.
Für ihn ist aber Ideologie nicht einfach nur "falsches Bewusstsein", sondern kann viele Bedeutungen haben.
1986 erschien sein Buch "L'ideologie. L'origine des idée récues", 1988 die deutsche Version "Ideologie. Geschichte und Kritik eines Begriffs".

Boudon erläuterte darin sein Ideologieverständnis anhand einer 2 x 2 - Tabelle.

Definitionen von Ideologie und Arten ihrer Erklärung



MITGLIEDSCHAFTEN

Raymond Boudon war gut vernetzt und entsprechend Mitglied in vielen Gesellschaften:

  • Académie des sciences morales et politiques
  • Academia Europaea
  • British Academy
  • American Academy of Arts and Sciences
  • International Academy for the Human Sciences of St. Petersburg
  • Royal Society of Canada (Société Royale du Canada)
  • Argentinische Akademie für die Sozialwissenschaften

1995 erhielt Boudon den Amalfi-Preis, mit vollem Namen "Premio Europeo Amalfi per la Sociologia e le Scienze Sociali".


VERÖFFENTLICHUNGEN (AUSWAHL)
  • À quoi sert la notion de structure?, 1968
    (D: Strukturalismus - Methode und Kritik, 1973)
  • La crise de la sociologie, 1971
  • L'Inégalité des chances, 1973
    (GB: "Education, Opportunity, and Social Inequality"; 1974, überarbeitet)
  • Mathematical Structures of Social Mobility, 1973
  • Effets pervers et ordre social, 1977
  • La Logique du social, 1979
    (D: Die Logik des gesellschaftlichen Handelns, 1980)
  • La Place du désordre, 1984
  • L'ideologie. L'origine des idée récus, 1986
    (D: Ideologie. Geschichte und Kritik eines Begriffs")
  • Dictionnaire critique de la sociologie, 1990
  • Déclin de la morale, déclin des valeurs, 2002
  • Tocqueville aujourd'hui, 2005
  • Renouveler la démocratie: éloge du sens commun, 2006
  • The Origin of Values, 2001
  • The Poverty of Relativism, 2004
  • Contributions to the General Theory of Rationality, 2013
    (D: Beiträge zur allgemeinen Theorie der Rationalität, 2015)

LITERATUR (KLEINE AUSWAHL)
  • Parsons, Talcott/Edward Shils/Paul F. Lazarsfeld: Soziologie - autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft; Stuttgart 1975 (dtv)
  • Goblot, Edmond: Klasse und Differenz. Soziologische Studie zur modernen französischen Bourgeoisie; Konstanz 1994 (Univ.-Verlag Konstanz)
  • Jean-Michel Morin: Boudon, un sociologue classique. Paris 2006 (L’Harmattan)
  • John Goldthorpe: Pioneers of Sociological Science: Statistical Foundations and the Theory of Action; Cambridge 2021 (Cambridge University Press), S. 177–189
  • Viktoria Jung: Soziale Herkunft als Ursache für Bildungsungleichheit und Bildungsentscheidungen: Ein Theorievergleich der Ansätze von Pierre Bourdieu und Raymond Boudon; Bachelorarbeit 2020
  • Robert Leroux: Penser avec Raymond Boudon; PUF 2022
  • Yasin Özden: Die Entstehung und Reproduktion von sozialer Bildungsungleichheit nach Pierre Bourdieu und Raymond Boudon: Wie entstehen Bildungsungleichheiten in der Schule und welche Rolle spielt das kulturelle Kapital dabei?; Studienarbeit 2022


Dienstag, 22. Juli 2025

MEIR KAHANE UND DER KAHANISMUS

22.07.2025

Meir Kahane, 1975

* 01.08.1932 in Brooklyn (New York City)
+ 05.11.1990 in Manhattan (New York City)

Meir Kahane, der als Martin David Kahane geboren wurde, war ein orthodoxer Rabbiner, religiöser Zionist, und weit rechter Politaktivist in den USA und Israel.
Nach ihm ist der Kahanismus benannt, der bis heute die zionistische und israelische radikale Rechte bestimmt.

JUGEND

Meir Kahane wurde als Martin David Kahane geboren. Schon sein Vater, Charles Kahane, war orthodoxer Rabiner und radikaler Zionist. Charles Kahane prägte das Weltbild seines Sohnes nachhaltig. Im Haus der Kahanes gingen rechte und insbesondere revisionistische Zionisten ein und aus. Charles Kahane unterstützte auch die terroristische Irgun.

In den 1930er- und 1940er-Jahren, also noch vor der Gründung des Staates Israel, orteten rechte Zionisten in den USA verschiedene Feinde:

  • die britische Mandatsmacht in Palästina, die der Gründung eines jüdischen Staates im Wege stand (abhängig von jeweils mächtigen Politikern in GB)
  • die Araber und speziell palästinensischen Araber/Palästinenser, die sich vor Ort durch einen geplanten Judenstaat bedroht fühlten
  • den 1933 in Deutschland an die Macht gekommenen Nationalsozialismus
  • in geringerem Ausmaß der italienische Faschismus (für einige Zionisten war er methodisch auch ein Vorbild)
  • weiße, christliche Rassisten in den USA
  • Schwarze in den USA, die die oft wirtschaftlich erfolgreichen Juden als Provokation empfanden
  • nach Stalins Wende in den späten 1940er-Jahren vom Pro-Linkszionismus zum Antisemitismus und Antizionismus auch die Sowjetunion


Meir Kahane besuchte auf Wunsch des Vaters die rechtszionistische Betar-Jugend. Diese war von Wladimir Zeev Jabotinsky gegründet worden. Sein dortiger Jugendführer war Mosche Arens, der später israelischer Verteidigungsminister wurde.
1952 trat Kahane der noch radikaleren Bne Akiwa bei. In der Schule war Kahane sowohl akademisch als auch sportlich gut. Damals gab es im Zionismus die Vorstellung, dass Juden aus ihrem rein geistigen Image herausgehen müssten und zusätzlich (kampf-)sportliche Kompetenzen lernen sollten, um ihre Interessen in einem aggressiven Umfeld durchzusetzen.
Kahane spielte in der Schule Baseball. Er traf in seiner Nachbarschaft, in der wenig Juden wohnten, auf Antisemitismus.


AKTIVISMUS IN DEN USA

Als Erwachsener wurde Kahane zum orthodoxen Rabbiner ordiniert und nannte sich Meir (der Erleuchtete). 1956 heiratete er Libby und zeugte mit ihr 4 Kinder.
1958 wurde er Rabbiner des Howard Beach Jewish Center in Queens.
Die Gemeinde war ihm aber zu liberal und trug seine Idee der Mechiza (Trennung von Männern und Frauen in der Synagoge) nicht mit.
Darüber publizierte er in der jüdisch-orthodoxen Jewish Press den Artikel "End of The Miracle of Howard Beach". Er blieb der Jewish Press bis zum Lebensende treu.

Am Übergang zu den 1960er-Jahren soll Meir Kahane im Auftrag des FBI als Michael King und Christ die rechtsradikale John-Birch-Society ausspioniert haben.
In den 1960ern soll Kahane außerdem ein außereheliches Verhältnis zu Gloria Jean D'Argenio, einer Christin, gehabt haben, die sich nach der Trennung das Leben nahm (Quelle: Michael T. Kaufman).

Im "Umbruchsjahr" 1968 gründete Meir Kahane die Jewish Defense League (JDL), die sich als paramilitärische Organisation gegen Nazis, schwarze Antisemiten und Einrichtungen und Vertreter der Sowjetunion richtete. Damals war es in den USA ein großes Politikum, ob die sowjetischen Juden eine Auswanderungsfreiheit bekommen könnten oder nicht.
Die JDL wird manchmal mit der Anti-Defamation League (ADL) verwechselt, will aber bewusst schärfer als die ADL gegen Antisemitismus vorgehen.
Als Symbol für die JDL wählte Kahane - ähnlich wie bei später von ihm oder seinen Anhängern gegründeten Organisationen - die Faust vor dem Davidstern. Angeblich soll das ein Symbol samt Racheaufforderung von Juden in Konzentrationslagern gewesen sein.
Anfangs wählte er als Farbkombination Blau-Weiß, ähnlich der Flagge Israels, weil diese Farben traditionell mit dem Judentum verbunden wurden.
Interessanterweise wählte er später für seine Kach-Partei aber die Grundfarbe Gelb (!), die im Mittelalter oft zur Stigmatisierung der Juden verwendet wurde.

Die JDL beging nach US-amerikanischem Recht schwere Straftaten - im Namen ihrer Ideale.
Trotzdem wurden ihre Mitglieder einschließlich Meir Kahane nur mild bestraft.
Kahane wurde 18-mal verhaftet, kam aber oft gegen Kaution frei, die ihm auch noch von Joseph Columbo bezahlt wurde, der Boss und Namensgeber einer der Fünf Familien der Mafia bzw. der Cosa Nostra.
Inmitten dieser Auseinandersetzungen ging/floh Kahane im Jahre 1971 nach Israel. Einige warfen ihm vor, dass er nicht 1967 zum Sechs-Tage-Krieg dorthin gegangen sei.


AKTIVISMUS IN ISRAEL

In Israel angekommen gründete Kahane gleich 1971 die Kach-Partei. Ihr Symbol war wieder eine Faust vor dem Davidstern, diesmal aber in Schwarz-Gelb, obwohl (weil?) Gelb im europäischen Mittelalter als antisemitische bzw. antijüdische Farbe galt.

Die Kach-Partei war am Anfang nur eine Splitterpartei, fiel aber medial mit radikalen Forderungen auf. Kahane legte damit in Israel die Grundlage für die Ideologie des Kahanismus, die aus zahlenmäßig kleinen Anfängen heraus immer stärker werden und für die kommenden Jahrzehnte die israelische Politik formen sollte. Der Kahanismus war auch die treibende Kraft hinter vielen Gewalttaten.

Der Kahanismus war:

  • nationalistisch (religiös wie ethnisch => Rassismusvorwurf)
  • ultrareligiös
  • antidemokratisch, pro-theokratisch
  • Israel kann nicht demokratisch sein, weil dann seine Identität bei veränderter ethnischer Zusammensetzung der Wählerschaft "abgewählt" werden könnte
  • nominell anti-westlich
  • außenpolitisch expansionistisch hin zu einem Großisrael
Der Kahanismus war und ist nationalistisch und zugleich ultrareligiös. Er hat aber nichts mit den antizionistischen Ultraorthodoxen zu tun, die den Staat Israel ablehnen, weil sie meinen, so ein Staat könne nur von Gott errichtet/wiederhergestellt werden.
Der Kahanismus war antidemokratisch und verfolgte das Ideal einer Theokratie. Als 1978/79 im Iran die Islamische Revolution unter Chomeini stattfand, empfand Kahane für deren Methoden und Vorgehensweise durchaus Sympathien. Nur war er eben Jude und kein Moslem. Das brachte ihm den Spitznamen "Israel's Ayatollah" ein.
Nach außen hin war der Kahanismus expansionistisch. Man wollte ein Großisrael errichten, das mindestens auch das Ostjordanland umfasste, wenn nicht sogar den Sinai und Teile Mesopotamiens. Dies war durchaus eine Anlehung an radikalzionistische Ansichten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und der israelischen Staatsgründung.
Meir Kahane war streng genommen auch anti-westlich, obwohl er in den USA Unterstützer hatte. Er sah das Judentum als eine östliche Religion an und wandte sich - in Anlehnung an die Antike - gegen den "Hellenismus". Damit meinte er nicht die gleichnamige nachklassische Epoche der antiken griechischen Geschichte, sondern die hellenisierten Juden dieser Zeit, die ihre eigene Tradition aufgrund ihrer Anpassung an den hellenistischen Zeitgeist vernachlässigten.

Konkret forderte Kahane vom Staat Israel eine harte Haltung gegenüber seinen Nachbarn und im Inneren eine Politik, die unbedingt verhindern sollte, dass die Juden ihre Majorität (Mehrheitsrolle) gegenüber den Palästinensern/Arabern (je nach Sichtweise) verlören.
Dementsprechend forderte er Gefängnisstrafe für Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden und gleichzeitig den Ausbau jüdischer Siedlung und die Vertreibung oder zumindest Entrechtung der in Kernisrael und den 1967 besetzten Gebieten lebenden Palästinenser/Araber.

Viele etablierte Politiker warfen der Partei Rassismus vor, was durchaus nicht unberechtigt ist.
Kahane betrachtete Araber als minderwertig. Es kam deshalb und wegen diverser Gewaltakte zu Gerichtsprozessen.

Als Hardliner bekämpfte Kahane Ende der 1970er-Jahre auch das Camp-David-Abkommen, dessen Zustandekommen am 17.09.1978 er aber nicht verhindern konnte. Am 26.03.1979 kam sogar ein Israelisch-Ägyptischer Friedensvertrag zustande.
Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat, der später von islamischen Extremisten im eigenen Land ermordet wurde, erhoffte sich durch die Annäherung an den einstigen Feind Israel einmal die Rückgewinnung der im Krieg verlorenen Halbinsel Sinai, generell mehr politische Stabilität und nicht zuletzt Waffenlieferungen aus den USA statt aus der Sowjetunion.
Kahane und seine Anhänger sahen aber die Aufgabe der inzwischen auf dem Sinai aufgebauten jüdischen Siedlungen als Verrat an. Sie waren viel zu wenige, um den Lauf der Dinge aufzuhalten, aber ihre Aktionen waren medial wirksam.
Der Abzug Israels von der Sinai-Halbinsel dauerte bis in die frühen 1980er-Jahre. Aus Protest dagegen haben sich Anhänger Kahanes in der jüdischen Siedlung Yamit in einem Bunker verschanzt und mit kollektivem Selbstmord im Stile Massadas (in der Antike eine hart umkämpfte Stadt im Krieg mit den Römern) gedroht. Als sich die Kahanisten auch von israelischen Oberrabinern nicht zum Abzug überreden ließen, ließ die israelische Regierung Kahane (für ihn) publikumswirksam aus den USA einfliegen, damit er seine Anhänger zur Aufgabe überredete.

1980 wurde Kahane zu 6 Monaten Haft verurteilt, weil er angeblich die Al-Aksa-Moschee und den Felsendom, beides islamische Heiligtümer auf dem Tempelberg, sprengen wollte.
Bis heute beharren radikale Zionisten darauf, dass auf dem Tempelberg der "Dritte Tempel" errichtet werden soll.

Meir Kahane (mit Bart) spricht 1984 in Tel Aviv vor seinen Anhängern


Doch Kahane kämpfte in der politischen Arena weiter. 1984 erreichte seine Kach-Partei einen Sitz im israelischen Parlament, der Knesset.
Dabei erhielt er nicht nur Unterstützung von radikalen Siedlern mit "Frontbewusstsein", sondern erkannte auch, dass nicht-aschkenasische Juden sich vom aschkenasischen Establishment deutlich diskriminiert fühlten, aber ihren Hass auch an Arabern ausließen.
Außerdem spielten wachsende soziale Ungerechtigkeiten durch "neoliberalistische"/wirtschaftsliberalistische Entwicklungen eine Rolle, gegen die es nicht nur linken, sondern zunehmend auch rechten Protest gab.
Nach dem Sieg 1984 organisierten die Kahanisten der Kach-Partei eine große Siegesfeier, bei der ein arabischer Markt und andere Einrichtungen überfallen wurden.
Kahane wurde Abgeordneter der Knesset und erklärte, er werde keine Regierung unterstützen, die nicht bereit sei, die Araber aus den besetzten Gebieten (für ihn ein Teil Israels) zu vertreiben.

1988 wurde Kahanes Wahlliste wegen Verstößen gegen das neu erlassene Wahlgesetz mit antirassistischen Klauseln icht mehr zugelassen. Ein Staatsanwalt plädierte vor dem obersten Gericht in Jerusalem, dass Kahane ein Nazi sei und seine Ideen und Taten Parallelen zu denen Adolf Hitlers hätten.
Der deutschstämmige israelische Publizist Uri Avnery bezeichnete Kahane als "jüdischen Nazi" und die Kach-Partei als "Nazipartei". Er griff Kahane auch in DER SPIEGEL an und warf ihm vor, sein Aktivismus sei der Tatsache geschuldet, dass sein Berufsleben in den USA nicht vorangegangen sei, sein Hebräisch klänge für einen Nationalisten erstaunlich amerikanisch und gerade im israelischen Schicksalsjahr 1967 sei er in den USA geblieben.

Wie dem auch sei: Auf längere Sicht war Kahanes Ideologie durchaus erfolgreich.
Er selbst sollte dies aber nicht mehr mitbekommen.


TOD DURCH EIN ATTENTAT


Meir Kahane kam 1990 in Manhatten bei einem Attentat ums Leben. Der Hauptverdächtige, El Sayyid Nosair, der nach einem Schusswechsel mit der Polizei festgenommen, später aber vom Mordvorwurf freigesprochen wurde, war 1993 in den "ersten" Anschlag auf das World Trade Center mit einer Autobombe involviert.
Das Attentat auf Kahane wird auch in "Bombenattentat auf das World Trade Center" (1997) dargestellt.


DER KAHANISMUS NACH KAHANE

Baruch Meir Marzel

Binyamin Ze'ev Kahane



Nach dem Tod Meir Kahanes lebte er der Kahanismus weiter.
Den Streit um die Nachfolge Kahanes an der Parteispitze gewann Baruch Meir Marzel gegen Kahanes Sohn Binyamin Ze'ev Kahane.
Dieser gründete darauf eine eigene Partei, Kahane Chai (Kahane lebt). Inhaltlich war diese Partei ähnlich wie die Kach-Partei gestrickt.

In den 1990ern mobilisierten die Nachfolgeparteien aufgrund von zwei Faktoren:



  • es gab immer wieder schwere Zusammenstöße zwischen Israelis und Palästinensern
  • US-Präsident Bill Clinton wollte die ursprünglichen Hardliner Yitzhak Rabin und Yasir Arafat dazu drängen, ein Friedensabkommen zu schließen;
    man sprach vom "Oslo-Friedensprozess", der 1993 in Oslo begann
    => für die Kahanisten war das Verrat
In diesem Jahrzehnt waren 2 Anschläge sinnbildlich für das Aggressionspotenzial des Kahanismus, obwohl es noch viel mehr Anschläge gab.


Baruch Goldstein


Am 25.02.1994 tötete Baruch Kappel Goldstein (Benjamin Carl; 1956 - 1994), ein Arzt und Sanitätsoffizier der IDF in der Ibrahimiyya-Moschee in Hebron (Teil des "Patriarchengrabs") 29 Menschen und verletzte rund 150 weitere. Seine Anhänger behaupteten, er sei im Vorfeld provoziert worden.
Als ihm die Munition ausging, wurde er von der Menschenmenge gelyncht.
Goldstein war in den USA aufgewachsen, hatte früh Kontakt zum Haus der Kachanes, studierte am Albert Einstein College of Medicine und war Mitglieder der Jewish Defense League.
Einigen Kahanisten gilt Goldstein bis heute als Idol.
Das offizielle Israel lehnte dagegen Goldsteins Vorgehen ab und stufte die kahanistischen Parteien Kach und Kahane Chai als terroristische Vereinigungen ein. Es soll aber noch gewisse Untergrundstrukturen geben.

Jigal Amir


Am 04.11.1995 tötete Jigal Amir (* 1970) in Tel Aviv den israelischen Premierminister Jitzchak Rabin, weil er die Friedenspolitik des ehemaligen Falkens Rabin als Verrat ansah. Rabin wurde dabei zum Verhängnis, dass seine Sicherheitskräfte eine mögliche Gefahr v. a. von Arabern und/oder Moslems sehen und nicht aus den eigenen Reihen.
Die Tat brauchte Amir eine lebenslange Freiheitsstrafe ein. Seine Tat bereut er dennoch nicht.
Genauere Nachforschungen haben ergeben, dass auch Amir im Umfeld des Kahanismus aktiv war. Amir soll auch von 
Rabbi Schlomo Aviner aufgehetzt worden sein. Vom Untersuchungsbericht der Schamgar-Kommission durfte zunächst fast die Hälfe des Textes nicht veröffentlicht werden. Die Verbindungen des Attentäters waren offenbar zu heikel.

Am 31.12.2000 wurde auch der Sohn Meir Kahanes, Binyamin Ze'ev Kahane mitsamt seiner Frau Talya bei einem Attentat ermordet. Sie fuhren in einem Kleintransporter auf dem Rückweg von Jerusalem und wurden in Kfar Tapuach erschossen, wobei 5 ihrer 6 Kinder schwer verletzt wurden. Ihr Fahrzeug wurde dabei von Kugeln durchsiebt.

Auch die Gewalt durch die Kahanisten ging weiter.
Am 04.08.2005 erschoss der 19-jährige Eden Natan-Zada, ein Mitglied der inzwischen verbotenen Kach-Bewegung, in einem Bus in Schefer'am 4 Araber und verletzte 22 weitere, bis er von der aufgebrachten Menge gelyncht wurde.

Der israelische Likud-Politiker Benjamin Netanjahu bediente sich zum Machterhalt immer wieder rechtsradikaler Verbündeter. Avigdor Lieberman war Mitglied der Kach-Partei und wurde später Verteidigungsminister unter Netanjahu.

2012 wurde die Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke) von Arieh Eldad und Michael Ben-Ari gegründet, als deren starker Mann sich Itamar Ben-Gvir herausstellte. Ben-Gvir gehörte früher der Jugendorganisation der Kach and und hatte lange Zeit ein Bild von Baruch Goldstein in seinem Wohnzimmer. Im Dezember 2022 wurde er israelischer Minister für öffentliche Sicherheit, auch wenn er diesen Posten später wieder aufgab, weil ihm Netanjahus militärisches Vorgehen gegen den Gaza-Streifen infolge des Angriffs vom 07.10.2023 und gegen den Iran zu gemäßigt erschien.

Itamar Ben-Gvir

Der Kahanismus läuft auch in der Familie von Meir Kahane weiter.

Ein Enkel von ihm, Meir Ettinger (* 1991) ist in Israel ein kahanistischer Aktivist, der die extremistische "Hilltop Youth" anführt. Seine Eltern sind Mordechai und Tova Ettinger(-Kahane).
Die Hilltop Youth setzt auf die weitere Expansion israelischer Siedlungen im Westjordanland (West Bank). Sie geht dabei auch gewalttätig gegen palästinensische Siedlungen, Einrichtungen, Moscheen und Einzelpersonen vor. Lkws werden die Reifen zerstochen, um den palästinensischen Handel zu erschweren und Hirten werden abgedrängt.
Meir Ettinger ist dabei nicht nur anti-islamisch sondern auch anti-christlich motiviert.
Den säkularen Staat Israel lehnt er ebenso ab wie demokratische Institutionen generell und möchte ihn durch eine religiöse Gesellschaft auf der Grundlage der religiösen Schriften ersetzen. Manche nennen ihn "ghost of Meir Kahane".
Ideologisch ist Ettinger auch von Rabbi Yitzhak Feivisch Ginsburg (* 1944) beeinflusst, der die Vorstellung der Überlegenheit von Juden gegenüber Nicht-Juden vertritt, aber die rohe Gewalt Ettingers und der Hilltop Youth offiziell ablehnt.


ÜBERSICHT ÜBER DIE OPFER DES KAHANISMUS

Die Opfer des Kahanismus von den 1970ern bis in die 2010er.
Quelle: David Sheen


QUELLEN UND LITERATUR:

Wikipedia
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www.spiegel.de
www.focus.de
www.youtube.com (z. B. David Sheen)

Samstag, 19. Juli 2025

"AYA VELAZQUEZ"

19.07.2025

www.velazquez.press (07.2025)

* 1986

Aya Velázquez (Pseudonym) ist eine deutsche Anthropologin, Journalistin und Politaktivistin.

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Aya Velázquez ist das Pseudonym einer deutschen Anthropologin, Journalistin und Politaktivistin.
Sie arbeitet bisweilen investigativ, sagt aber in einem Interview mit Jasmin Kosubek im Juli 2025, sie sei keine Investigativjournalistin. 
Velázquez agiert häufig von Berlin aus. Einige Internetquellen nennen als ihren bürgerlichen Namen Magdalena Jany, aber das ist nicht gesichert (vgl. DIE ZEIT; J. Schweitzer/T. Kattwinkel: "Heftiger Druck" von oben; 25.07.2024). Es ist auch unklar, ob ihr Pseudonym auf Vorfahren aus Spanien oder aus Süd- oder Mittelamerika hindeutet.

Aya Velázquez tritt mit politischen Aktionen an die Öffentlichkeit und nimmt an politischen Diskussionen teil. Sie betreibt einen eigenen Blog: https://www.velazquez.press

Velázquez hat an der Freien Universität Berlin Kulturanthropologie studiert. Danach soll sie als Model und einige Zeit als Sexarbeiterin gearbeitet haben. Sie hat sich auch für die Interessen von Sexarbeitern eingesetzt.

Noch 2019 suchte Velázquez die Öffentlichkeit über Klimademos. Im Interview mit Jasmin Kosubek sagte sie ironisch, dass sie damals noch bei den "Guten" war.
Später änderte sie ihre politische Ausrichtung und näherte sich Ansichten der Partei "Die Basis" an, der sie auch beigetreten sein soll. Velázquez äußerte auch Sympathien für einige BSW-Politiker (z. B. Jessica Tatti).
Velázquez griff über Jahre insbesondere die Covid-19-Maßnahmen der deutschen Bundesregierung an. Später unterstützte sie die Veröffentlichung von "Corona-Protokollen", die ihrer Meinung nach zeigen, dass sich Wissenschaftler ihre Lagebewertung von Politikern diktieren lassen haben und dass umgekehrt Wissenschaftler mit übertriebenen Ansichten Politiker beeinflusst haben.
Im Juli 2025 erschien auf ihrem Blog ihr Artikel: "Fünf Jahre nach Corona: Deutsche Leitmedien entdecken die Laborthese".

Velázquez wurde auch mehrfach von Jasmin Kosubek zu Interviews für ihren Youtube-Kanal geladen.

Kritiker werden Velázquez vor, (falsche) Verschwörungstheorien zu bedienen. Einige ihrer Thesen über "PsyOps" wirken problematisch. Andererseits wurden Anhänger der Laborthese als Ursprung von Covid 19 lange Zeit für ihre Ansicht als Verschwörungstheoretiker und Schwurbler diffamiert, obwohl immer mehr Indizien und auch Expertenbewertungen für eine solche Möglichkeit sprachen.

Insofern kann man, auch wenn man einige Aussagen von Velázquez nicht teilt, ihr trotzdem das Recht auf freie Meinungsäußerung zusprechen (das auch in GG Art. 5 garantiert ist, aber einigen Schranken/Einschränkungen unterliegt).
Velázquez droht aber selber einigen ihrer Gegner mit dem Vorgehen durch ihre Anwälte.


QUELLEN:

Wikipedia (Artikel gelöscht)
-
www.velazquez.press
Auftritte in diversen sozialen Medien (v. a. X, Telegram, Youtube)
[Hinweis: Ihre X-Seite scheint unter Überwachung zu stehen!]
https://promisklatsch.de/aya-velazquez/


Donnerstag, 17. Juli 2025

MEINUNG/KOMMENTAR: DIE KÖRPERENERGIE "CHI"

Taiji (Quelle: pixabay.com; Francisco J. Cesar)


17.07.2025

Man hört in puncto ostasiatischer Philosophie oft vom Begriff 
"Ch'i" oder "Qi".
Besonders in Meditations- oder Kampfsportgruppen trifft man auf den Begriff.

Man sollte dazu festhalten:

Ch'i gibt es nicht. Das ist ein symbolischer Begriff aus alten Zeiten.
Er wird im Taoismus bzw. Daoismus verortet.

Ob man es nun Ch'i oder Qi schreibt, hängt von der Umschrift ab wie bei Taoismus und Daoismus oder Mao Zedong und Mao Tse-tung.
Das eine wäre die Pinyin-Umschrift, das andere die Wade-Giles-Umschrift, wie sie früher bei uns verwendet wurde und heute noch in Taiwan. (Wade-Giles wird übrigens "Weid-Dschails" gesprochen und ist nach zwei Sinologen benannt.)
Die Schreibweise Ki ist japanisch.

Der Begriff bedeutet soviel wie Energie, Kraft, Luft, Äther, Lebensatem etc., vergleichbar dem griechischen Begriff pneuma/πνεῦμα, dem lateinischen Begriff anima (Seele) bzw. animus (Geist) oder dem Sanskrit-Begriff atman (verwandt mit atmen).

Trotzdem gibt es physikalisch kein Ch'i, es sei denn, man würde Nervenaktivität und Muskelanspannung so bezeichnen.

Das heißt nicht, dass der Begriff völlig "sinnlos" ist, denn manchmal kann es auch helfen, heilen oder stärken, wenn man sich etwas einfach vorstellt, also imaginiert. Der Gedanke an Engel kann auch manchen Menschen helfen. Oder der Gedanke an Zeus.
Zumindest geben Imaginationen Hinweise auf psychische Impulse, die solche Gedankenwelten entstehen lassen.

Man denke nur an den Theologen Drewermann, der die Bibel tiefenpsychologisch gelesen hat oder an den Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl oder an den Dichter Apollonios von Rhodos (3. Jhd. v. Chr.), der in seinem Epos Argonautika (Argonautensage) den Einfluss der Götter auf das Handeln der Menschen stark als psychologischen Faktor dargestellt hat.



Montag, 14. Juli 2025

LINUX: FREE AND OPEN SOURCE SOFTWARE (FOSS) 2025

14.07.2025

 

It's FOSS! (pixabay.com)

 

Browser:

  • Firefox
  • Chromium 
  • Vivaldi
  • Opera (kein FOSS)
  • Brave 

Multimedia:

  • VLC
  • Celluloid
  • SMPlayer 
  • Clementine
  • Elisa 
  • Shortwave (Webradio)
  • Goodvibes (Webradio)
  • Spotify (kein FOSS)
  • Audacity 

Office:

  • MS Office: wer nicht darauf verzichten kann, kann es auch online nutzen
  • LibreOffice 
  • OnlyOffice
  • SoftMaker Office

Editor:
(Einige Editoren orientieren sich an Notepad ++ für Windows.)

  • gedit 
  • Kate
  • KWrite
  • Vim (klassischer Editor)
  • GNU Emacs (Programmierung, erweiterbar) => Hybrid mit Vim: Spacemacs
  • Atom (Programmierung) 
  • Bluefish (Webentwicklung)
  • Brackets (Webentwicklung; vgl. CoffeeCup HTML Editor) 
  • Codeshare.io (Webdienst) 
  • Geany (Programmierung)
  • NetBeans 
  • Sublime Text (Programmierung) 

PDF:

  • Okular (auch gut andere Formate)
  • Master PDF-Editor 
  • Xournal++
  • LibreOffice Draw (fehlerhaft)

Grafikanzeige:

  • Gwenview
  • Okular (auch gut für PDF und andere Formate) 
  • Shotwell
  • XnView 


Grafik 2D/3D:

  • GIMP (Grafikbearbeitung)
  • Krita (Zeichenprogramm mit Grafikbearbeitung)
  • Inkscape (Vektorgrafikprogramm)
  • Scribus (Desktop Publishing)
  • FreeCAD
  • OpenSCAD 
  • Blender (grafische "Allzweckwaffe": 3D, Videodesign, Videoschnitt, ...)
  • Darktable (RAW-Dateien bearbeiten)
  • Raw Therapee (RAW-Dateien)

 Videoschnitt und -produktion: 

  • Shotcut (anfängerfreundlich; erkennt viele Formate)
  • Openshot (anfängerfreundlich, aber z. T. instabil)
  • Kdenlive (semi-professionell bis professionell)
  • Cinelerra 
  • DaVinci Resolve (auch kostenpflichtige Version)
  • OBS 

Statistik:

  • PSPP (in Anlehnung an SPSS) 

Productivity und Collaboration (einiges online):
(Groupware (z. B. Intranet-Gruppe) orientiert sich oft an MS Exchange.)

  • Notion (Arbeitsbereichssoftware)
  • Obsidian (Notizsoftware, Wissensmanagement; basiert auf Markdown)
  • NocoDB (entwirft aus Daten Tabellenkalkulation)
  • AppFlowy (To-Do-Listen und Kanban-Boards)
  • Logseq (Notizsoftware, Organisationssoftware, Wissensmanagement)
Chat und Kommunikation: 
  • IRC: Konversation, HexChat, KVIrc
  • Teams (kommerziell, aber Client für Linux)
  • Slack (kommerziell)
  • Rocket.Chat
  • Jitsi Meet
  • Trello (vom MIT, siehe Snapcraft.io!)
  • Stream Deck (über Nextcloud)

Mail:

  • Thunderbird
  • Evolution
  • Claws Mail
  • KMail 

Sicherheit: 

  • Bitwarden (Passwortmanager) 
  • KeePassXC (Passwortmanager, offline) 
  • VPN: funktionieren auch unter Linux, aber ein sicheres System ist wichtiger 

Bildung:

  • Kalzium 
  • Stellarium 

Spiele und Simulatoren:

  • Sandbox-Spiele: Minecraft
  • Jump 'n' Run: SuperTux, TeeWorlds
  • Kart-Spiele: SuperTuxKart
  • Aufbau-Spiele: Battle for Wesnoth, 0AD
  • Autorennen: TORCS, Speed Dreams, Trigger Rally, Stunt Rally
  • Shooter: Xonotic, UrbanTerror
  • FlightGear

 

 

Samstag, 28. Juni 2025

ALTE KIRCHE

28.06.2025 (ca.)

Taufdarstellung (Calixtus-Katakombe in Rom)
Taufdarstellung (Calixtus-Katakombe in Rom)


Der Ausdruck "Alte Kirche" wird meist synonym gebraucht zu den Ausdrücken "Frühe Kirche" oder "Frühchristentum". Manche verstehen unter Frühchristentum aber auch nur die vorkonstantinische Zeit.
Mit Alter Kirche meint man die Kirche(ngeschichte) der ersten Jahrhunderte bis ungefähr 500 n. Chr.
Diese Epochenabgrenzung wirkt sich auch auf die Einteilung der Lehrstühle für Alte Kirchengeschichte, Mittlere Kirchengeschichte und Neuere Kirchengeschichte aus.

Diese Einteilung birgt auch Probleme:

  • die frühen Christen waren noch eine heterogene Bewegung, die kaum als "Kirche" geeint war (ekklesia/ἐκκλησία meinte ursprünglich eine Versammlung oder Gemeinde, wörtlich "das Zusammengerufene")
  • erst in der Mitte des 2. Jhd.s etablierten sich langsam christliche Organisationsformen
  • die Zäsur um ca. 500 n. Chr. kann man vertreten, allerdings bilden schon die Regierungszeiten von Kaiser Konstantin I. (der Große) und Kaiser Theodosius I. im 4. Jhd. n. Chr. deutliche (positive) Einschnitte für die Entwicklung des Christentums
  • Kaiser Konstantin I. (Flavius Valerius Constantinus; 270/288 - 337) stieg machtpolitisch auf, als sich die von Kaiser Diokletian errichtete Tetrarchie (Viererherrschaft) auflöste; er verhalf zwar mit der "konstantinischen Wende" letztendlich dem Christentum zum Durchbruch im Römischen Reich, doch ging dabei er schrittweise vor; 313 garantierte Konstantin zusammen mit Licinius (Kaiser des Ostens) mit dem "Mailänder Edikt/Toleranzedikt/Vereinbarung" die Religionsfreiheit im Reich; danach privilegierte er das eben noch verfolgte Christentum sogar und sorgte 325 im Ersten Konzil von Nicäa für eine teilweise Beilegung innerchristlicher Streitigkeiten; Konstantin förderte aber erst lange den Sol-Invictus-Kult, bevor er dem Christentum den Vorzug gab; Konstantins recht späte Hinwendung zum Christentum hatte sicher nicht nur ideelle, sondern auch strategisch-taktische Motive (z. B. den Sieg in der Schlacht an der Milvischen Brücke 312)
  • Theodosius I. (Flavius Theodosius; 347 - 395) machte das Christentum schließlich 391 de facto zur Staatsreligion des Römischen Reiches; der Trinitarier ging mit Gesetzen sowohl gegen Heiden als auch gegen christliche Abweichler (Häretiker) vor; unter seinen Söhnen wurde das Imperium Romanum faktisch in ein Weströmisches und in ein Oströmisches Reich eingeteilt, obwohl man ideell an der Einheit des Reiches festhielt


ZEITLICHE EINGRENZUNG

Für die zeitliche Eingrenzung des Zeitraums der "Alten Kirche" existieren unterschiedliche Ansätze:
Häufig versteht man darunter die Epoche vor der Abspaltung der altorientalischen Kirchen (orientalisch-orthodoxen Kirchen), also jenen "Ostkirchen", die sich nach dem Konzil von Ephesos (431) oder nach dem Konzil von Chalcedon (451) von der römischen Reichskirche getrennt haben.
Diese "Altorientalen" waren entweder Landeskirchen außerhalb der Grenzen des (Ost-)Römischen Reiches oder Regionalkirchen (-bewegungen) innerhalb des Reiches, die in Armenien, Ägypten, Georgien oder Syrien gegen den konstantinopolitanischen Zentralismus gerichtet waren. Ethnisch mag es sich dabei um Griechen, Kopten oder Assyrer/Aramäer gehandelt haben. 
Heute spricht man auch von "Oppositionskirchen". Ihre Abspaltung (Trennung) hatte neben dogmatischen auch politische und soziale Gründe. Die Altorientalen waren aber nicht durch eine einheitliche "altorientale Ideologie" verbunden.
Die theologischen Entwicklungen, ökumenischen Konzile, Heiligen und Kirchenväter dieser Zeit werden meistens von allen großen Konfessionen anerkannt.

Generell zur Epoche der Alten Kirche zählen:

  • das Urchristentum
  • die apostolischen Väter
  • die Apologeten
  • die frühchristlichen Märtyrer
  • die Kirchenväter
  • die spätantike Reichskirche (nach der konstantinischen Wende)
  • die ersten vier ökumenischen Konzile bis zum Konzil von Chalcedon 451 

Oben haben wir geschrieben, dass das Ende der Alten Kirche ungefähr um 500 n. Chr. war.
Einige sehen ihre Existenz mit dem Untergang des Weströmischen Reiches enden, andere erst mit Gregor dem Großen (540 - 604), dem letzten Kirchenvater des Westens, der auch in der Ostkirche anerkannt wird.


BEGRIFFLICHE EINGRENZUNG

In der Kirchengeschichte der (Zeit der) Alten Kirche gibt es manigfaltige Bezeichnungen, die sich teilweise überschneiden:

  • Jerusalemer Urgemeinde: Die J. U. war die erste christliche Gemeinde, die sich gemäß des NT nach Pfingsten in Jerusalem versammelt hat, zeitlich wohl zwischen 30 und 70 n. Chr.
  • Urchristentum: Das U. bezeichnet in der Christentumsgeschichte die Entstehungszeit des Christentums nach dem Tod Jesu von Nazaret, der um 30 n. Chr. eingetreten sein soll
    (einige Historiker bestreiten generell die Existenz eines historischen Jesus bzw. Jeshua);
    war sein Ende mit der Verschriftung der synoptischen Evangelien (um 90 n. Chr.) oder erst mit dem Auftreten der Apologeten in der Mitte des 2. Jhd.s n. Chr.?
  • Zeit der apostolischen Väter: Die Zeit d. a. V. bezeichnet die Zeit der Kirchenväter, die möglicherweise Beziehungen zu Aposteln hatten oder stark von ihnen beeinflusst wurden;
    man spricht auch von den "Kirchenvätern der zweiten und dritten Generation" im späten 1. Jhd. und in der ersten Hälfte des 2. Jhd.s
  • Frühchristentum (frühes Christentum): die gesamte Epoche der Alten Kirche oder nur die vorkonstantinische Zeit (v. a. die Anerkennung des Christentums als "Religio licita" im Mailänder (Toleranz-)Edikt/Vereinbarung von 313); manchmal wird der Begriff sogar synonym zum Urchristentum und seiner Zeit verwendet
  • Christenverfolgungen: Die Zeit der vorerst sporadischen, dann etwa ab 100 auch systematischen (zunächst lokalen und dann reichsweiten) Christenverfolgungen im Römischen Reich begann mit der Neronischen Verfolgung und endete mit dem Mailänder (Toleranz-)Edikt/Vereinbarung von 313, endgültig mit der Anerkennung der christlichen Kirche als einziger Staatsreligion im Jahre 391
  • Römische Reichskirche: Wesentliche Schritte zur Reichskirche waren das Dreikaiseredikt von 380, das den römisch-alexandrinischen trinitarischen Glauben zur offiziellen Religion des Römischen Reiches erklärte, um innerchristlichen Streitigkeiten zu begegnen, und das Edikt von 391, mit dem Kaiser Theodosius I. die heidnischen Kulte verbot
  • einige moderne Forscher sehen jedoch erst mit/unter Kaiser Justinian I. im 6. Jhd. n. Chr. die machtpolitische Durchsetzung des Christentums gegen das Heidentum;
    denn noch lange nach 391 n. Chr. gab es heimlich ausgeübte heidnische Kulthandlungen, die dann unter Justinian I. strikt(er) unterbunden wurden;
    die römische Reichskirche hatte gegenüber dem Staat aber nie die Macht, die die römisch-katholische Kirche im Mittelalter hatte - im Osten entstand ein prekäres Gleichgewicht mit der kaiserlichen Macht
  • Zeit der ökumenischen Konzilien: Die Zeit d. ö. K. ist die Zeit der sieben ökumenischen Konzile vom ersten Konzil von Nicäa von 325 bis zum zweiten Konzil von Nicäa von 787.
  • Patristik: P. ist die Wissenschaft, die sich mit der Zeit der Kirchenväter vom 2. bis ins 7./8. Jhd. befasst
  • Pentarchie: Die Pentarchie ist die Zeit der fünf ökumenischen Patriarchate;
    diese existierten de facto seit dem ersten Konzil von Konstantinopel 381 und wurden 451 n. Chr. endgültig am Konzil von Chalcedon definiert;
    die Pentarchie umfasste die Patriarchate des Abendlandes, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem;
    die Pentarchie endete mit dem Morgenländischen Schisma (Großes Schisma, Schisma Graecorum) etwa um die Jahrtausendwende, also zwischen der Westkirche und der östlichen Orthodoxie


ORGANISATORISCHE UND THEOLOGISCHE ENTWICKLUNGEN

In die Zeit der alten Kirche fällt die Entwicklung vom Urchristentum zur Bischofskirche und dann zu den fünf Patriarchaten, also Alexandrien, Antiochien, Jerusalem, Konstantinopel und des Abendlandes.
Bis zum Anfang des 4. Jhd.s tauschten sich die Bischöfe v. a. brieflich aus. Nach der konstantinischen Wende entstand ein "reger Synodalbetrieb", zumal die Bischöfe der legalisierten Kirche jetzt den "Cursus publicus" (kaiserliche Post) nutzen konnten.

In die Zeit der Alten Kirche fangen auch die Anfänge des Mönchstums, die Entstehung der ersten Klöster in Ägypten, der Ordensregeln der heiligen Basilius und Benedikt.

In der Zeit der Alten Kirche entstanden auch der Kanon des Neuen Testaments und die allgemein anerkannten Glaubensbekenntnisse. Theologisch und philosophisch entspricht die Zeit der Patristik, also der Zeit der Kirchenväter.

Es gab bereits in der Phase der Alten Kirche erhebliche innerchristliche Konflikte, die manchmal auch blutig ausgetragen wurden:

  • Auseinandersetzungen mit der Gnosis
  • Auseinandersetzungen mit dem Marcionismus
  • A. mit dem "Hellenismus" (Apologeten)
  • der arianische Streit und der nestorianische Streit bzgl. der Christologie
  • der Donatistenstreit bzgl. der Ekklesiologie 
Constantina-Mausoleum
Constantina-Mausoleum (Rom, um 337 n. Chr.)





QUELLEN:
Wikipedia
Universitätsseminiare
Beck'sche Reihe


Dienstag, 24. Juni 2025

MARC DUTROUX

24.06.2025 (ca.)  - 04.08.2025

Marc Dutroux (Bleistiftzeichnung)


* 06.11.1956 in Ixelles/Elsene in der Region Brüssel-Hauptstadt

Marc Dutroux ist ein belgischer Schwerkrimineller, Mörder und Sexualstraftäter.

-

Marc Dutroux entführte und missbrauchte bis Mitte der 1990er-Jahre Kinder und Jugendliche.
Es gibt erstens Indizien, dass er dies schon in den 1980ern getan hat, und zweitens, dass er dies nicht nur für sich, sondern auch für kriminelle Netzwerke getan hat.
Mindestens zwei entführte Kinder verhungerten in seiner Gefangenschaft.
Dutroux war auch in weitere kriminelle Machenschaften wie Diebstahl, Hehlerei und Erpressung verwickelt. Bis heute ist nicht ganz klar, in welchem Umfang.
Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und Abhängigkeiten (Erpressungsgefahr!) im kriminellen Untergrund soll Dutroux auch Komplizen getötet haben.
Die Taten von Dutroux wurden in ihrer Schwere erst spät entdeckt und sind bis heute nicht vollumfänglich bekannt. Während der Ermittlungen gegen Dutroux kam es offensichtlich zur Vernichtung von Beweismaterial und zur Einschüchterung und Ermordnung von Ermittlungsbeamten, Zeugen und Komplizen.
Dies führte zu einer großen öffentlichen Empörung. Im Oktober 1996 demonstrierten 300.000 Menschen in Brüssel beim "Weißen Marsch".
Schließlich wurde Marc Dutroux zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.

Dutroux konnte sich bei seinen Taten auf viele Komplizen verlassen. Das komplette Netzwerk der Täter ist bis heute nicht aufgeklärt. Bei Streitigkeiten wurden mehrere Komplizen beseitigt.

Dutroux konnte lange auf die Komplizenschaft seiner (Ex-)Frau, Michelle Martin (15.01.1960) bauen. Sie wurde schließlich zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits 2012 nach 16 Jahren Haft entlassen. Martin stellte sich vor Gericht als Opfer des manipulativen Dutroux hin.

Michel Lelièvre (11.05.1971), ebenfalls ein Komplize Dutroux', wurde zu 23 Jahren Zuchthaus verurteilt und 2019 auf Bewährung entlassen. Der drogenabhängige "Außenseiter" hat vor Gericht alle Taten zugegeben.

Bernard Weinstein
, ein weiterer Komplize Dutroux' und womöglich "Vorgänger" Lelièvres, wurde 1995 von Dutroux vergiftet (betäubt) und lebendig im Garten begraben.
Er soll Dutroux bei seinen Taten betrogen haben und war ein Risiko aufgrund seiner Mitwisserschaft.

Jean van Peteghem, noch ein Komplize Dutroux', fuhr bereits 1991 mit seinem Moped in einen Bus. Dieser Unfall ist verdächtig, zumal van Peteghem verfolgt worden sein soll.
Er wollte sich vorher von Dutroux und dessen anderen Komplizen distanzieren und barg die Gefahr, als Mitwisser vieler Taten mit der Polizei zu reden.


Eine weitere verdächtige Beziehung Dutroux' war die zu Michel Nihoul (auch Jean-Michel Nihoul genannt; 23.04.1941 - 22.10.2019). Der Anwalt und Geschäftsmann Nihoul galt es möglicher Kontakt Dutroux' in "höhere Kreise". Nihoul war auch Partyveranstalter, Rotlichtunternehmer und in diverse dubiose Geschäfte verwickelt.


später angeklagte Akteure

Die skandalösen Ermittlungen im Fall Dutroux führten nicht nur zu öffentlichen Protesten, sondern auch zu investigativen Artikeln, Büchern und Dokumentationsfilmen.
Ein berühmtes Beispiel: "Die Spur der Kinderschänder - Dutroux und die toten Zeugen" von 2001 von Piet Eekman.
In dieser ZDF-Reportage geht man auf den Fall Dutroux, die Ermittlungen und auf 27 mysteriöse Todesfälle in seinem Umfeld ein.  


JUGEND

Marc Dutroux wurde 1956 bei Brüssel geboren und wuchs die ersten vier Lebensjahre in der Noch-Kolonie Belgisch-Kongo auf (bis 1960). Seine Eltern waren beide Lehrer, so dass ihm der Zugang zu Bildung anfangs offen gestanden hat. Dutroux hatte drei jüngere Brüder und eine jüngere Schwester.
Die Ehe von Dutroux' Eltern war aber zerrüttet. Dutroux' Vater Victor galt als cholerisch und auch physisch gewalttätig. Marc bekam als ältester Sohn viel von dessen Frust ab.
Auch seine Mutter soll wenig Empathie gezeigt haben.

Dutroux entwickelte so einen Hass auf die Gesellschaft, was die Gefahr birgt, dass so ein Mensch zum Opfer und Täter in einer Person wird. Es fehlte eine entgegensteuernde Kraft, die das hätte verhindern können.

Marc Dutroux war schon als Neunjähriger in Schlägereien verwickelt. Später stahl er Mofas und handelte mit pornographischen Bildern.

1971 wurde Dutroux' Vater wegen Depressionen für mehrere Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Im selben Jahr ließ er sich von seiner Frau scheiden.
Einige Biographen meinen, dass dann Marc Dutroux in die Rolle des Patriarchen nachgerückt ist.
Im Alter von 16 verließ Dutroux sein Zuhause und schlug sich mit Diebstahl und als Stricher durch.
Dutroux galt als "König der Eisbahn" und lernte viele seiner Liebschaften beim Schlittschuhlaufen kennen.


FAMILIENGRÜNDUNG UND KRIMINELLER LEBENSSTIL

Im Alter von 18 oder 20 Jahren heiratete Dutroux Mitte der 1970er (1976?) zum ersten Mal. Seine Frau brachte ein Kind mit in die Ehe. Beide bekamen noch ein weiteres Kind, gaben dann aber beide Kinder in ein Heim.
Nach wiederholten Gewaltausbrüchen auf Seiten von Dutroux wurde die Ehe 1983 geschieden.

Dutroux hatte aber bereits eine Affäre mit der Lehrerin Michelle Martin, die bereits drei eigene Kinder hatte. 

In Dutroux verfestigte sich schon bald sein krimineller Lebensstil.
Er beging Autodiebstähle, Überfälle, stahl und handelte mit Drogen.
Um sich zu finanzieren, machte er auch einen Schrotthandel auf, über den er seine Hehlerware weiterverkaufen konnte.
Mit der Zeit wurde Dutroux auch polizeibekannt.
In den 1980ern wohnte Dutroux häufig in einem Lieferwagen und fuhr quer durch Belgien.
Er hasste die Gesellschaft.

Es wird vermutet, dass Dutroux in dieser Zeit auch schwerere Delikte beging.
1984 fand man bei Brüssel die Leiche einer jungen Frau. Zeugen berichteten von einem "Marc aus Charleroi", mit dem das Opfer bekannt gewesen sein soll.

Am 04.02.1986 wurde Marc Dutroux mit seiner Lebensgefährtin Michelle Martin wegen Entführung und Missbrauch von fünf jungen Frauen verhaftet. Dutroux hatte pornographische Aufnahmen von seinen Taten gemacht, mit denen er auch handeln wollte.

Am 26.04.1989 wurde Dutroux zu 13 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Michelle Martin zu fünf Jahren. Noch 1989 heirateten beide im Zuchthaus.

Bei seinen Taten in den 1980ern hatte Marc Dutroux Unterstützung von Jean van Peteghem, einem drogensüchtigen "Außenseiter", der unter ungeklärten Umständen nach seiner Haftentlassung Anfang 1991 am 27.08.1991 bei einem Mopedunfall in Lüttich/Liège starb. Er floh angeblich vor etwas und fuhr in einen Bus.
Interessanterweise hatte Dutroux nur kurze Zeit vorher vom 23.08.-24.08.1991 Hafturlaub.

Dutroux hat seinem Mithäftling Daniel Dejasse mitgeteilt, dass er van Peteghem töten wolle.
Dutroux Frau Martin berichtete 1997 auch, dass Dutroux nach van Peteghems Tod zufrieden war und geäußert habe, dass er bei besserem Wissen ihn schon früher getötet hätte.
Dutroux hatte offensichtlich Angst, dass van Peteghem "auspackt". Dieser hatte sich schon vorher von der Bande um Dutroux distanziert und wurde im Gefängnis und danach bedroht.

1992 wurde Dutroux von Melchior Wathelet, dem damaligen Justizminister, begnadigt. Er hatte nur drei Jahre im Zuchthaus abgesessen. Dutroux' Mutter sprach sich in einem Brief an den Zuchthausdirektor gegen diese Begnadigung aus. Es ist auch nicht klar, was Wathelet, der später seine Karriere auch in der EU fortsetzte, zu diesem Entschluss brachte.

Nach Dutroux' Entlassung wurde ihm vom Psychiater Emile Dumont eine seelische Schädigung aufgrund der Haft bescheinigt mit resultierender Erwerbsunfähigkeit auf Lebenszeit. Dutroux erhielt eine staatliche Rente. Die verschriebenen Schlaf- und Beruhigungsmittel setzte er später zur Betäubung und Tötung seiner Opfer ein.

ENTFÜHRUNGEN VON MELISSA RUSSO UND JULIE LEJEUNE SOWIE VON EEFJE LAMBRECKS UND AN MARCHAL


das Haus von Marc Dutroux in Charleroi-Marcinelle


Dutroux baute den Keller eines seiner Häuser im Stadtteil Marcinelle von Charleroi aus.
Zunächst diente er als Versteck für seine Beute aus den Diebstählen, die er weiterhin unternahm, später als Verlies für die gefangenen Kinder und Jugendlichen. Hinter einer massiven Tür, die als Regal getarnt war, befand sich ein 2,15 Meter langer, weniger als 1 Meter breiter und 1,64 Meter hoher Raum.

Am 24.06.1995 wurden Melissa Russo (8) und Julie Lejeune (8) entführt, in Dutroux’ Zelle gefangen gehalten und mehrfach sexuell missbraucht. Später wurde öffentlich diskutiert, ob Dutroux diese Kinder nur für sich selbst entführt hat oder zum Zweck des Handels mit Pornographie und für Sexpartys - was wahrscheinlicher ist.
Am 22.08.1995 wurden Eefje Lambrecks (19) und An Marchal (17) entführt und ebenfalls zum Zweck der Pornographieherstellung vergewaltigt. Da sich im Kellerverlies bereits die beiden achtjährigen Mädchen befanden, sperrte Dutroux Eefje und An im ersten Stock des Hauses ein.

VORÜBERGEHENDE VERHAFTUNG, MORDE AN GEFANGENEN UND AN BERNARD WEINSTEIN SOWIE FAHNDUNGSPANNEN

Da Dutroux wieder in Autodiebstähle verwickelt war, wurde er am 6.12.1995 verhaftet. Bei der Untersuchung der Diebstähle durchsuchte die Polizei auch Dutroux’ Haus, in dem die beiden achtjährigen Mädchen gefangen gehalten wurden. Eefje und An waren zu diesem Zeitpunkt bei einem Komplizen untergebracht oder bereits vergiftet. Der leitende Beamte gab später an, im Keller Kinderstimmen gehört zu haben, nahm jedoch an, sie kämen von der Straße, daher wurden die Mädchen nicht gefunden.

Nach Dutroux’ späteren Aussagen sollte sich seine Frau um die Pflege der Kinder kümmern, während er selbst im Gefängnis war. Michelle Martin ließ die Kinder allerdings verhungern. Eines war bei Dutroux’ Freilassung am 20.03.1996 bereits tot, das andere verstarb nach Dutroux’ Aussage in seinen Armen.


Bernard Weinstein

Vermutlich fällt in diese Zeit (oder etwas früher) auch die Ermordung von Dutroux' Komplizen Bernard Weinstein, der ihn um Geld betrogen hatte und insgesamt zuviel wusste.

WEITERE ERMITTLUNGSFEHLER

Bei den Ermittlungen passierten immer wieder Fehler. So lag den Ermittlern schon im August 1995, einen Monat nach der Entführung von Mélissa und Julie, ein Bericht vor, in dem Dutroux’ vormaliger Komplize Claude Thirault, der der Polizei bereits als Handlanger bei Dutroux’ Raubüberfällen bekannt war, behauptete, Marc Dutroux hätte ihm Geld angeboten, damit er auf einem Dorffest junge Mädchen entführe. Dafür wurden ihm 150.000 Belgische Franc (etwa 3700 Euro) in Aussicht gestellt. Ferner baue Dutroux im Keller eines seiner drei Häuser Zellen.

Die Mutter von Dutroux schrieb nach dem Verschwinden von An Marchal und Eefje Lambrecks einen Brief an den zuständigen Ermittlungsrichter, in dem sie auf Beobachtungen von Hausnachbarn hinwies, dass zwei unbekannte Mädchen in das Haus ihres Sohnes gebracht worden seien. Ausdrücklich wies sie in dem Brief darauf hin, dass es einen Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern geben könne und forderte die Behörden zur Hausdurchsuchung auf, was jedoch nicht geschah.

Trotz der Hinweise und der Vorstrafe des Beschuldigten wurde das Anwesen Dutroux’ erst im Dezember 1995, Monate später, durchsucht, als die vorübergehende Inhaftierung Dutroux’ aufgrund von Autodiebstählen erfolgte. Die neu eingezogene, frisch verputzte Wand fiel den Ermittlern bei der darauffolgenden Durchsuchung trotz der Kinderstimmen nicht auf. Die vielen im Haus gefundenen Videoaufnahmen, auf denen Dutroux zum Teil den Ausbau der Zellen in seinem Haus dokumentiert hatte, wurden nicht durch die Polizei gesichtet oder pauschal als „unauffällig“ klassifiziert.


ENTFÜHRUNGEN VON SABINE DARDENNE UND LAETITIA DELHEZ

Dutroux hörte mit den Entführungen auch jetzt nicht auf, obwohl die Polizei ihm immer dichter auf den Fersen war.
Am 28.05.1996 entführte er die zwölfjährige Sabine Dardenne, indem er sie in seinen Transporter zerrte. Am 09.08.1996 entführte er die 14-jährige Laetitia Delhez. Es ist nicht klar, ob und welche Komplizen dabei waren.
Allerdings traf man bei den polizeilichen Ermittlungen auf einen Augenzeugen, der sich einen Teil von Dutroux' Autokennzeichen gemerkt hatte.


VERHAFTUNGEN UND HEFTIGE ÖFFENTLICHE REAKTIONEN

Die Angaben zu Teilen von Dutroux Autokennzeichen führten schließlich am 13.08.1996 zu seiner Verhaftung. Nicht nur Marc Dutroux sondern auch Michelle Martin und der Komplizen Michel Lelièvre gingen der Polizei jetzt ins Netz.
Am darauffolgenden Tag wurde auch Michel Nihoul verhaftet, der höchstwahrscheinlich auch ein Komplize war, auch wenn er sich später elegant herauszureden versuchte.
Nihoul war von ca. einem Dutzend Zeugen im August 1996 vor dem Schwimmbad von Bertrix gesehen worden, bevor Laetitia Delhez dort entführt wurde. Nihoul hatte für Dutroux die Betäubungsmittel für die Opfer besorgt.
Nach seiner Verhaftung soll Nihoul gesagt haben: "Meine Arme sind so lang wie die Donau."
Er spielte damit auf seine guten Kontakte zu hohen Stellen an. Und in der Tat sollte sein Strafmaß später reduziert werden.


Es kam erneut zu einer Durchsuchung von Dutroux' Häusern, die aber wieder ergebnislos verliefen. Erst durch einen Hinweis von Dutroux selbst konnten die Polizisten Dutroux' Kellerverlies finden und am 15.08.1996 Sabine Dardenne und Laetitia Delhez befreien.
Dutroux führte die Fahnder am 17.08.1996 auch zu den Leichen der verhungerten achtjährigen Mädchen und seines ermordeten Komplizen Bernard Weinstein. Er hatte alle zusammen im Garten eines seiner Häuser vergraben.
Am 03.09.2025 führte Dutroux die Polizei auch zu den Leichen von An und Eefje.

Dutroux stellte sich selber als eine Art Handlanger dar. Er habe die Mädchen nicht nur für sich allein entführt, sondern auch für andere Personen. Dies würden angeblich "höchste Protektion von ganz oben" genießen.
Als Anstifter und Kopf einer Bande von Männern, die Sexualstraftaten an Kindern verübten, beschuldigte Dutroux nach der Verhaftung und während des Prozesses mehrfach Michel Nihoul. In der Tat verfügte der Anwalt, Geschäftsmann und Partyveranstalter Nihoul über beste Kontakte in höhere Gesellschaftskreise.
Nihoul war nur relativ kurz in Untersuchungshaft, aber im April 2003 wurde entschieden, auch ihn vor Gericht zu stellen.

Als die unsagbaren Verbrechen sowie die Ermittlungspannen und wahrscheinlichen Verzögerungstaktiken der belgischen Öffentlichkeit bekannt wurden, kam es zu massiven öffentlichen Protestkundgebungen. Die Polizei hatte Mühe, der Emörung Herr zu werden.
Der Verfolgungsdruck stieg.
Im Oktober 1996 nahmen 300.000 Menschen in Brüssel am "Weißen Marsch" teil.
Im März 1997 wurde auf der Straßenseite gegenüber von Dutroux' Haus in der Avenue de Philippeville 128 in Charleroi-Marcinelle eine Gedenktafel mit folgender Inschrift befestigt:

"En memoire de tous les enfants vicitimes de pédophilie.
(Im Gedenken an alle Kinder, die Opfer der Pädophilie wurden.)"

Gedenktafel in Charleroi


FLUCHT UND ERNEUTE FESTNAHME

Im April 1998 kam es zu einer weiteren schwerwiegenden Panne, als Dutroux in einem Gerichtsgebäude einem seiner Bewacher die Dienstwaffe entreißen und fliehen konnte.
Dies führte zu einem sofortigen Großeinsatz tausender Beamter, der vier Stunden dauerte.
Schließlich wurde Dutroux von Spürhunden in einem Waldstück gefunden.
Die öffentliche Empörung war erneut groß. Innenminister Johan Vande Lanotte und Justizminister Stefaan De Clerck sowie Polizeichef Willy Deridder mussten zurücktreten.
Nach der Festnahme sagte Dutroux zu einem Polizisten: "Ich bin glücklich, wenn ich das Chaos sehe, in das ich Belgien gestürzt habe."


DIE FRAGE NACH HINTERGRUNDSTRUKTUREN UND DOKUMENTATIONEN ZUM FALL

Der kritischen Öffentlichkeit stellte sich die Frage, ob es sich beim Versagen der Ermittler immer nur um Schlamperei handelte oder ob auch System dahintersteckte.
Im weiteren Verlauf der Untersuchungen und Gerichtsverhandlungen wurden immer wieder "übereifrige" Ermittler von dem Fall zurückgezogen. Auffällig war auch eine hohe Sterberate unter Ermittlern, Zeugen und Komplizen.
Dies ließ in der Öffentlichkeit immer mehr die Frage aufkommen, ob Dutroux wirklich nur für sich oder für einen kleinen Kreis von Kriminellen gearbeitet hatte, oder ob er nicht - gerade über seinen Freund Michel Nihoul - viel größere und höhere Kundenkreise von Sexpartys bedient hat, die dann in die Ermittlungen eingriffen und versuchten, diese immer wieder abzudrehen.

Zu dieser Frage erschienen einige wichtige TV-Dokumentationen und Bücher.

Besonders stark schlug die ZDF-Reportage "Die Spur der Kinderschänder - Dutroux und die toten Zeugen" von 2001 ein. In dieser Dokumentation wurde behauptet, dass zwischen der Festnahme Dutroux' und des Prozesses gegen ihn mindestens 27 Menschen aus dem Team der Ermittler, von den Zeugen und aus dem kriminellen Umfeld unter mysteriösen Umständen starben. Ein berühmter Fall war Staatsanwalt Hubert Massa, der angeblich durch Suizid starb.



Die Doku nennt 27 Namen (hier 26):

  • Jean-Paul Taminiau (02.04.1995): sein Fuß wurde in einem Fluss gefunden
  • Alexandre Gosselin (04.07.1995)
  • Francois Reyskens (26.07.1995)
  • Guy Goebels (25.08.1995)
  • Bernard Weinstein (11.1995): ein Komplize Dutroux'; von diesem vergiftet
  • Bruno Tagliaferro (05.11.1995)
  • Simon Poncelet (21.02.1996)
  • Michel Piro (05.12.1996)
  • Joseph Toussaint (05.03.1997)
  • Christiaan Coenrads (07.03.1997)
  • José Steppe (25.04.1997)
  • Gérard Vanesse (16.11.1997)
  • Brigitte Jenart (05.04.1998)
  • Anna Konjevoda (07.04.1998)
  • Gina Pardaens (15.11.1998)
  • Fabienne Jaupart (18.12.1998)
  • Hubert Massa (13.07.1999)
  • Grégory Antipine (15.08.1999)
  • Sandra Claeys (04.11.1999)
  • Jean-Jacques Feront (01.03.2001)
  • Nadège Renard (04.2001?)
  • Bernard Routmond
  • Marie-Louise Henrotte
  • Christoph Vanhexe
  • Pierre-Paul „Pepe“ De Rycke (17.05.2001)
  • Philippe Deleuze (15.11.2001)


Weitere Dokus:

  • 60 Minutes Australia: The Beast of Belgium
  • ZDF-Reportage: "Die Spur der Kinderschänder - Dutroux und die toten Zeugen" (2001)von Piet Eekman
  • ZDF-History: Dutroux und der Fall N. (2004) von Piet Eekman (39 Minuten)
  • WDR: Der Fall Dutroux (2004) von Marcel Kolvenbach (44 Minuten)
  • Arte: Unfassbar - Der Fall Dutroux von Joeri Vlekken; 4-teilig

Die Belgierin Anneke Lucas behauptete im Januar 2017, bereits 1974 von einem Mann gefoltert worden zu sein, der später Mitangeklagter im Dutroux-Prozess gewesen sei, und bestätigte Verbindungen des mutmaßlichen Netzwerkes zu Spitzenbeamten und Kabinettsmitgliedern.
Bis heute gilt der Fall als nicht vollständig aufgeklärt. Ermittler und investigative Journalisten berichteten, die Ermittlungen seien wiederholt behindert worden.


QUELLEN UND LITERATUR

Wikipedia
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Berger, Alois: Einzeltäter oder Kinderschänderring; Deutschlandfunk, 17.06.2004
"Dutroux ist ein Manipulator"; Aachener Zeitung/dpa, 27.02.2004
Opstal Aurore: Le curieux décès de Van Peteghem; DHnet.be|lesSports, 12.01.2020
FAZ-Dossier zum Fall
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Coninck, Douglas: Marc Dutroux. Het stilste jongetje van de klas; Antwerpen (Houtekiet) 2004
Schümer, Dirk: Die Kinderfänger; Berlin (Siedler) 1997


Freitag, 20. Juni 2025

CHRISTIAN PILNACEK

20.06.2025 (ca.) - 08.08.2025

Christian Pilnacek (2016)


* 04.05.1963 in Wien
+ 20.10.2023 bei Rossatz

Christian Pilnacek war ein österreichischer Karrierejurist.

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Christian Pilnacek war ein österreichischer Jurist und Karrierebeamter. Er bekleidete insbesondere im Justizministerium hohe Posten ("Hochbürokratie"). Pilnacek gilt als einer der Architekten einer modernisierten österreichischen Strafprozessordnung (StPO).
Seit 2010 leitete Pilnacek im österreichischen Justizministerium die Sektion Strafrecht (Straflegistik, Fachaufsicht über Strafverfahren) und seit 2020 nach deren Teilung die Sektion Straflegistik.
2018 und 2019 war er zusätzlich Generalsekretär des Justizministeriums und damit dessen oberster Beamter.

Pilnacek verfügte über gute Verbindungen zur konservativen ÖVP, für die er auch "Beratungsdienste" irgendwelcher Art getätigt hat. Dabei soll es aber auch zu Reibereien aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten und Ansprüche sowie aufgrund unterschiedlicher Politikvorstellungen gekommen sein.

Der Tod von Christian Pilnacek am 20.10.2023 in einem Nebenarm der Donau warf gewisse Fragen auf. Von offizieller Seite wurde schon früh von einem Selbstmord (oder Unfall) ausgegangen. Einige führende ÖVP-Politiker trieben die Suizidversion energisch voran.
Bei genauerem Hinsehen stellten aber investigative Journalisten immer mehr Ungereimtheiten fest und trugen diese publizistisch zusammen. Bereits beim Auffinden der Leiche wunderte sich die begutachtenden Ärztin über das Erscheinungsbild der Leiche und hatte den Eindruck, dass weitergehende Untersuchungen von der Polizei blockiert wurden.
Auch die einige Tage nach dem Tod gegen Widerstand durchgeführte Obduktion wird von Experten unterschiedlich bewertet.


BERUFLICHE LAUFBAHN

Christian Pilnaceks Karriere nahm in den 1990er-Jahren Fahrt auf.
1990 wurde er Richteramtsanwärter im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien, 1992 Richter des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien.
Pilnacek erhielt außerdem eine Dienstzuteilung zum Bundesministerium für Justiz in der Sektion IV (Straflegislativsektion).
Von 1998 bis 1999 war Pilnacek Richter am Landesgericht Korneuburg.

Mai 2001 wurde Pilncek Oberstaatsanwalt und stellv. Leiter der Sektion II (Generaldirektion für den Strafvollzug und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen) im Bundesministerium für Justiz.

Im September 2010 wurde Pilnacek Leiter der Strafrechtssektion des Bundesministeriums für Justiz (Sektion IV). Dort galt er als "verlängerter Arm" des Justizministers und kontrollierte die lokalen Staatsanwaltschaften, die vier Oberstaatsanwaltschaften und die zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA), auch Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft genannt.

Hier zeigte sich aber auch ein Problem: Das Innen- und das Justizministerum waren häufig in den Händen der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und Christian Pilnacek galt selber als Konservativer. In diesen Netzwerken der Macht ("Seilschaften") taten sich mit der Zeit aber auch Spannungen auf. Führende ÖVP-Politiker erwarteten immer wieder, dass Pilnacek ihnen ungenehme Untersuchungen "abdreht". Gleichzeitig wusste er durch seine Verbindungen viel über dunkle Machenschaften vieler ÖVP-Politiker.

Im Februar 2018 bestellte Justizminister Josef Moser Pilnacek neben seiner Tätigkeit als Sektionschef der Strafrechtssektion zum Generalsekretär des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz. Damit war er oberster Beamter des Justizministeriums.
Dieses Amt endete aber im Mai 2019, weil die schwarz(türkis)-blaue Regierungskoalition unter Bundeskanzler Sebastian Kurz über die Ibiza-Affäre um H. C. Strache stolperte.

In der neuen schwarz(türkis)-grünen Koalition wurde Alma Zadic (Grüne, ehemals Liste Pilz) Justizministerin. Sie war von den bestehenden konservativen Seilschaften wenig begeistert.
Im Mai 2020 gab sie bekannt, dass die Sektion Strafrecht wieder in zwei Teile - Legistik und Verfahren - aufgeteilt werden solle. Pilnacek sah dies (wohl zu Recht) als einen Angriff auf seine Machtposition, weil er sich nur um eine Leitung bewerben konnte. Schließlich wurde er Sektionsleiter für Straflegistik. 


SUSPENDIERUNG

Aufgrund des Verdachtes auf Verrat von Amtsgeheimnissen wurde Christian Pilnacek im Februar 2021 suspendiert. Auf seinem sichergestellten Smartphone waren Fotos eines Informationsberichts der WKStA an die Oberstaatsanwaltschaft Wien über eine bevorstehende Hausdurchsuchung bei Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) gefunden.

Ein weiterer Faktor war der Verdacht, dass Pilnacek eine anstehende Hausdurchsuchung bei Unternehmer Michael Tojner an dessen Rechtsanwalt Wolfgang Brandstetter verraten hat.
Brandstetter war von 2013 - 2016 (Dezember) Justizminister. 


Eine hausinterne Disziplinarkommission hob die Suspendierung zwar auf, die grüne Justizministerin Zacic hielt sie aber aufrecht. Die fortgesetzte Suspendierung wurde im Juni 2021 vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt.
Im April 2023 wurde neuerlich über die Suspendierung beraten. Pilnacek beteuerte vor der Disziplinarbehörde seine Unschuld. In einem Verfahren wurde er bereits rechtskräftig freigesprochen.
Klar ist, dass Pilnacek seine Rückkehr ins Justizministerium anstrebte.


AMBIVALENTES VERHÄLTNIS ZUR ÖVP

Es ist kein Geheimnis, dass Christian Pilnacek Sympathien für die konservative ÖVP hatte. Seine Unterstützung für die ÖVP erfolgte dienstlich und ihm Rahmen privater Beratertätigkeit.
Diese Unterstützung verlief manchmal entlang der Legalitätsgrenze.
Insbesondere beriet Pilnacek den damaligen ÖVP-Finanzminister Gernot Blümel in einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen ihn. Auf einem beschlagnahmten Smartphone Blümels fand man die Formulierung "Wer vorbereitet Gernot", was zum geflügelten Wort wurde.
Es ist auch kein Geheimnis, dass Christian Pilnacek keine Sympathie für seine Vorgesetzte, Justizministerin Alma Zadic, hegte. Auf seinem post mortem ausgewerteten Laptop fand man Formulierungen für parlamentarische Anfragen der ÖVP an/gegen Alma Zadic!

Es ist die Frage, ob Pilnaceks positives Verhältnis zur ÖVP immer auf Gegenliebe stieß.
Einerseits half er, Ermittlungen im Sinne der ÖVP zu beeinflussen. Andererseits monierte besonders Wolfgang Sobotka, dass Pilnacek nicht genug für die ÖVP getan habe.
Entsprechende Worte finden sich auch in den Dateien abgehörter Gespräche Pilnaceks in einem Restaurant.

ÖVP-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka bezeichnete Pilnacek als seinen Freund. Eine seiner Mitarbeiterinnen, Anna P., war Mitbewohnerin bei Pilnaceks Lebensgefährtin.
In internen Gesprächen äußerte sich Sobotka allerdings auch anders.

Außerdem muss man wissen, dass Pilnacek durch seine exponierte Machtposition und seine Netzwerke auch viel über dunkle Machenschaften der ÖVP und besonders von ihren Führungspersönlichkeiten wusste.


Selbst im Fall von Natascha Kampusch versuchte er, die "übereifrigen" Ermittlungen einiger Staatanwälte abzubremsen.
Auch dieser Fall ist bis heute nicht gelöst: Wurde Natascha Kampusch von einem verrückten und vereinzelten Täter namens Wolfgang Priklopil entführt oder wurde sie - wie eine Zeugin berichtete - von zwei Männern entführt, bespielsweise Priklopil und seinem umtriebingen Geschäftskollegen?
Und: Wurde sie darüber hinaus zu pornographischen Aufnahmen gezwungen, mit denen dann gehandelt wurde, wie Kontaktdaten der möglichen Entführer vermuten lassen.
Und: Gab es weitere Komplizen?
Und: Waren in diese Sexgeschäfte auch führende Persönlichkeiten Österreichs verwickelt? Immerhin sollen mutmaßliche Komplizen Priklopils aus dem Sicherheitsapparat vor bevorstehenden Fahndungsmaßnahmen gewarnt worden sein.

Öffentliche Aufmerksamkeit erregte 2023 auch Pilnaceks Beratung von Altkanzler Sebastian Kurz in dessen Strafverfahren zu einer angeblichen Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss.


PRIVATES

Pilnacek hatte aus erster Ehe drei Kinder.
In zweiter Ehe war er mit der Juristin Caroline List verheiratet, die seit 2017 Präsidentin des Grazer Straflandesgerichts ist. Gegner warfen ihm vor, List auf unerlaubte Weise bei ihrer Karriere geholfen zu haben.
Zuletzt lebte er mit seiner Lebensgefährtin Karin Wurm in Rossatz, hatte aber auch einen Wohnsitz in Wien-Ottakring.

TOD UND OFFENE FRAGEN

Christian Pilnacek wurde am Morgen des 20.10.2023 tot am Ufer eines Donau-Altarms nahe Rossatz gefunden (gegenüber Dürnstein).
Bereits am späten Abend davor wurde er von einer Polizeistreife als alkoholisierter Geisterfahrer auf der Stockerauer Schnellstraße angehalten und ihm der Führerschein entzogen.
Eine Mitbewohnerin seiner Lebensgefährtin Wurm, Anna P., die auch Mitarbeiterin des Nationalratspräsidenten Sobotka war, holte Pilnacek ab und brachte ihn nach Hause.
Danach brach Pilnacek zu einem mitternächtlichen Spaziergang auf. Es ist nicht klar, ob er sich durch den Spaziergang nur "entstressen" oder Personen treffen wollte, die ihm vermeintlich aus der Sackgasse helfen könnten, in die er sich manövriert hatte.

Am nächsten Morgen wurde seine Leiche gegen 6 Uhr auf dem Rücken liegend in seichtem Wasser gefunden.
Schon hier begann die Diskrepanz verschiedener Bewertungen, die letztendlich zur Forderung nach einem Untersuchungsausschuss führen sollte.
Wie starb Christian Pilnacek?

  • durch einen Unfall?
  • durch Selbstmord/Suizid?
  • durch ein Kapitalverbrechen?
    z. B. Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge usw. 

Der Notärztin kam die Leiche Pilnaceks seltsam vor. Sein Kopf war blau angelaufen.
Deshalb drängte sie auf eine Obduktion, was nach österreichischem Recht bei Wasserleichen sowieso vorgeschrieben ist.
Die Polizei drängte aber darauf, keine Obduktion durchzuführen, obwohl die Ermittlungen von der Mordkommission geführt wurden.
Die Notärztin berichtete später vor der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, die Polizisten hätten "massiven Widerstand" gegen eine Obduktion geleistet. Außerdem habe die Leiche so ausgesehen, wie sie es "in dieser Form (...) noch nie gesehen habe".
Eine Polizistin berichtete trotzdem der Staatsanwaltschaft, dass dies ein klarer Fall sei. Kritische handschriftliche Vermerke der Notärztin an die Staatsanwaltschaft wurden nicht weitergeleitet.
Bei der dann 6 Tage später doch durchgeführten Obduktion wurden dann "keine eindeutigen Hinweise auf eine grobe Gewalteinwirkung durch fremde Hand" gefunden. Allerdings wurden die Formulierungen des Arztes in späteren Berichten abgeschwächt.
Im Abschlussbericht des Landeskriminalamts waren die Wörter "eindeutig" und "grob" verschwunden. Die Polizeiberichte erwähnten nur oberflächliche Kratzer.
Die Staatsanwalt Krems ging von einem Selbstmord aus. Todesursache sei Ertrinken.
Ein Fremdverschulden sei ausgeschlossen.

Aufgrund der seltsamen Auffindesituation der Leiche und des seltsamen Gebarens der Ermittlungsbehörden schauten sich "kritische Geister" die Sachlage noch einmal genauer an.
So richtig Fahrt nahm die öffentliche Situation aber erst durch investigative Politiker und Journalisten wie Peter Pilz auf (langjähriger Parlamentspolitiker, dann Journalist bei ZackZack.at).

Im Obduktionsbericht werden ca. 20 Verletzungen am Körper Pilnaceks genannt.
Dazu zählen:

  • Blutergüsse (Hämatome) und Abschürfungen an Beinen, Armen und Händen
  • Blutergüsse in der schlüsselbeinnahen Halsmuskulatur
  • Einblutungen in die schulternahe Rückenmuskulatur
  • ein Bluterguss an der Hüfte
  • ein Bluterguss am rechten Oberschenkel
  • eine Rissquetschwunde im Gesicht 
Es stellte sich die Frage, wie das mit einem Selbstmord in flachem Gewässer vereinbar ist.
Das gerichtsmedizinische Gutachten mutmaßte ein Sturzgeschehen auf dem Weg zum Flussufer, möglicherweise von einer Böschung. Als Ursache für die Einblutungen in der Rückenmuskulatur kämen entweder das Ertrinken selbst oder "grobes Anfassen im Rahmen der Bergung des Leichnams" in Frage.
Allerdings kommt der Mediziner Wolfgang Schaden zu dem Ergebnis, dass zumindest 5 der Verletzungen nicht durch einen Sturz von der örtlichen Böschung erklärbar seien.
Der genaue Todeszeitpunkt Pilnaceks wurde  auch nicht festgestellt. 
Darüber hinaus wurden aufgrund der Annahme der Polizei, Pilnacek habe Selbstmord begangen, keine Standort- und Verbindungsdaten seines Smartphones eruiert, auch Daten aus Chats, Emails und Anrufen wurden nicht sichergestellt. Ähnlich war es bei seiner Smartwatch: Die Samsung Galaxy Smartwatch wurde zwar sichergestellt, aber nur oberflächlich ausgewertet. Auch weigerte man sich beim Landeskriminalamt, sie der WKStA zu übergeben.
Das Smartphone wurde Karin Wurm abgenommen und dann sogar rechtswidrig der Witwe Pilnaceks, Caroline List, übergeben, die es dann mit einem Bunsenbrenner vernichtet haben soll. Eigentlich wäre für das Smartphone der Verlassenschaftskurator zuständig gewesen.
List begründete dieses Verhalten später gegenüber der WKStA damit, dass sie bereits zuvor Unannehmlichkeiten mit Mobiltelefonen ihres Mannes gehabt habe. 2021 war Pilnaceks berufliches Smartphone beschlagnahmt worden. In dessen Chats fanden sich Hinweise, dass Pilnacek beim damaligen Landeshauptmann der Steiermark zugunsten von List für deren Beförderung zur Präsidentin beim Oberlandesgericht Graz interveniert hat.


Im März 2024 berichtete das Online-Medium zackzack.at, das von Peter Pilz ins Leben gerufen worden war, dass es unmittelbar nach Pilnaceks Tod zu einer rechtswidrigen Beschlagnahmung von Datenträgern und Schlüsseln Pilnaceks durch das Landeskriminalamt Niederösterreich kam.
Das berichtet seine Lebensgefährtin Karin Wurm.
Diesen Maßnahmen lag kein Sicherstellungsauftrag und kein Hausdurchsuchungsbefehl zu Grunde. Auch wurden die entnommenen Gegenstände nicht bestätigt/quittiert.
Die beschlagnahmten Schlüssel wurden dann rechtswidrig genutzt, um in Pilnaceks Wohnung in Wien nach weiteren Datenträgern zu suchen, obwohl dies in den Zuständigkeitsbereich des Landeskriminalamts Wien gefallen wäre.

Pilnacek soll außerdem immer einen USB-Stick mit brisantem Material über Freund und Feind mit sich geführt haben, der aber nicht bei der Leiche gefunden wurde (er ist zumindest kein Bestandteil der Beschlagnahmung). Ein privat genutztes Notebook von Pilnacek wurde ebenfalls zunächst nicht gefunden. Über Umwege tauchte es dann auf - zumindest wurden Kopien von auf dem Notebook befindlichen Daten später öffentlich. Darunter befanden sich auch zahlreiche Verschlussakten, auf die Pilnacek eigentlich nicht zugriffsberechtigt war.
Das Notebook ging wohn auch durch die Hände von Peter Pilz.

Pilnaceks Tod sorgte für großes mediales Aufsehen. Seltsam war auch, dass Sebastian Kurz dessen Tod schnell als tragischen Suizid bewertete, ohne dass überhaupt genaueres über die Hintergründe des Falles bekannt war.

Anna Thalhammer, Chefredakteurin des profil, würdigte Pilnacek in einem Nachruf als "eine der größten juristischen Instanzen der vergangenen Jahrzehnte". Sie beschrieb ihn aber auch als direkt und konfliktfreudig.
Florian Klenk, Chefredakteur des Falter, sah in Pilz zwei Seiten: Als Spitzenbeamter und Politikberater, als Repräsentant der dritten Gewalt und als Interessenvertreter der Regierenden. Pilnacek sei sympathisch und streitbar zugleich gewesen, aber auch ein "Sir mit den guten Manieren".

Pilnaceks Grabstätte befindet sich auf dem Hernalser Friedhof in Wien.


DER VERDACHT VON ANHÄNGERN DER MORD-THEORIE

Die Anhänger der Theorie, Pilnacek sei gewaltsam zu Tode gekommen (sei es durch Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge etc.) gehen im Kern von folgendem Szenario aus:

  • Pilnacek war gerade dabei, seinen Karriereknick durch die Suspendierung rückgängig zu machen
  • dabei störte seine Trunkenheits-Geisterfahrt, die von der Polizei entdeckt wurde und zum Führerscheinentzug führte 
    (unklar ist auch, ob bereits diese Geisterfahrt etwas mit seinem Konflikt mit ehemaligen Weggefährten zu tun hatte)
  • um dies zu vertuschen, könnte Pilnacek zu alten Verbündeten aus Politik (ÖVP), Verwaltung und Justiz aufgenommen haben (z. B. in einem Restaurant oder an der Donau), nach dem Motto:
    "Ich habe euch schon so oft geholfen, jetzt müsst ihr mir helfen!"
  • dabei mag es dazu gekommen sein, dass Pilnacek seinen zögernden Gesprächspartnern offengelegt hat, dass er ansonsten belastendes Material über die veröffentlichen könne
  • diese Drohung, die einstigen Verbündeten mit in den Abgrund zu reißen und ihre Karrieren zu zerstören, kann dazu geführt haben, dass sie entweder spontan die Kontrolle verloren und Pilnacek physisch angegriffen haben oder dass ein schon vorher optional geplantes Komplott dann wirklich ausgeführt worden ist
  • in der Folge hätten die Täter dann ihren Einfluss im Inneren und der Justiz dafür ausgenutzt, die einsetzenden Ermittlungen offensiv zu behindern und zu stören 



WEITERES VERFAHREN

Zum Todesfall Pilnacek sind TV-Berichte, Bücher und diverse Artikel erschienen.

Die FPÖ beantragte zu der Causa Pilnacek einen Untersuchungsausschuss, den sie aber thematisch mit den Coronaabwehrmaßnehmen (Covid 19/SARS CoV-2) verbinden wollte und außerdem für die vermuteten Vertuschungsnetzwerke den Begriff "Tiefer Staat" benutzte.
 
Es muss daher noch geklärt werden, auf welche Weise die Untersuchungen in der Causa Pilnacek weitergehen können.


QUELLEN UND LITERATUR:

Wikipedia
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Berichte von Tageszeitungen: Kurier, Standard etc.
Berichte im Fernsehen: ORF und Oe24
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Pilz, Peter: Pilnacek – Der Tod des Sektionschefs; Wien 2025 (Zack Media GmbH)
Rohrhofer, Gernot: „Er muss weg!“ – Der Fall Pilnacek; Wien 2025 (Seifert Verlag)